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Sonntag, 17. März 2013

Gertrude Steiner







Gertrude Steiner


Gertrude Steiner rollt vorsichtig auf den Parkplatz Nr. 5, den sie beim Nachbarhaus gemietet hat. Sie setzt nochmals etwas zurück, korrigiert leicht die Räder und fährt dann genau in die Mitte des Parkfeldes. Nur selten gelingt ihr das richtige Einparken beim ersten Mal. Nun schaltet sie das Licht aus und dreht den Zündungsschlüssel.
Gertrude bleibt noch einen Moment mit beiden Händen am Steuerrad sitzen, atmet aus und lehnt den Kopf zurück, bis der Knoten ihrer streng nach hinten gebundenen Haare die Nackenstütze berühren. Sie ist froh, endlich Zuhause zu sein.

Es war wieder ein harter Tag. Am Morgen zuerst vier Lektionen mit ihrer sechsten Klasse und dann, nach einem Kaffee und einem hastig verschlungenen Sandwich, die fast einstündige Fahrt zu ihrer dementen Mutter.
Jetzt, da die Konzentration auf den hektischen Abendverkehr nachgelassen hat, spürt sie eine lähmende Müdigkeit. Denn diese nachmittäglichen Besuche im Pflegeheim kosten sie jedes mal noch mehr Kraft, als ein ganzes Arbeitspensum mit ihrer aufmüpfigen Klasse. Aber Gertrude würde sich nie verzeihen, wenn sie, wie in den letzten fünf Monaten immer, an einem Mittwochnachmittag oder am Wochenende, auch nur einmal, ohne triftigen Grund, ihre Mutter nicht besucht hätte. Schliesslich hat Mutter in den letzten 38 Jahren auch alles für sie getan, war immer nur für sie da gewesen und hatte weitgehend auf ein eigenständiges Leben verzichtet. Gertrudes Pflichtgefühl gegenüber der Mutter wuchs somit in den letzten Jahren und auch die Widrigkeiten durch ihre fortschreitende Alzheimererkrankung konnten ihr schlechtes Gewissen nicht entlasten.

Die letzte Zeit war für beide nicht einfach gewesen. Anfangs war Mutter nur schusselig und vergass immer öfter das Essen zu salzen oder fand ihre Brille nicht mehr. Auch hatte sie zunehmend Mühe die richtigen Wörter zu finden oder kannte die Namen der alltäglichsten Dinge nicht mehr. Da half die Tochter jeweils schnell nach und Mutter schaute sie dann verwundert, aber selig lächelnd an.
Die Anzeichen einer Verwirrtheit waren anfangs auch eher lustig als tragisch. So lachten beide, als sie Mutters Strumpfhose im Kühlschrank fanden oder nach langem Suchen ihre Dritten in der Schmuckschatulle statt im Zahnglas. Die Tochter sah auch grosszügig darüber hinweg, als Mutter anfing, ihr immer wieder ein- und dieselbe Begebenheit zu erzählen.
Doch als sie dann öfters den Heimweg nicht mehr fand, mehrmals vergass den Kochherd auszuschalten oder mitten im Sommer den Schwedenofen anfeuerte, da kam es immer öfter auch zum Streit.
Gertrude hat es im Nachhinein immer sehr leid getan, denn sie musste sich eingestehen, dass sie ihrer Mutter unrecht tat, die ja nichts dafür konnte.

Dass man sich auf seine Mitmenschen nicht immer verlassen kann, das hat Gertrude durch leidvolle Enttäuschungen im Leben schon öfters erfahren.
Doch wie schrecklich muss erst die Erkenntnis sein, dass man sich selber nicht einmal mehr trauen darf?
Welche Ängste hat man auszustehen, wenn man nicht mehr sicher ist, was man vor fünf Minuten getan hat oder nicht mehr weiss, wie man die alltäglichsten Dinge zu erledigen hat. Wie grauenhaft, wenn man von der Tochter noch bekleidet beim Duschen erwischt wird oder beim Anziehen die richtige Reihenfolge der Kleider nicht mehr kennt? Wie beängstigend muss der Moment sein, an dem man zum ersten Mal jemanden fragt, wer denn die Person eigentlich ist, die den eigenen Namen trägt.
Wie fürchterlich muss diese ständige panische Angst sein, dass man etwas Wichtiges vergessen haben könnte oder, dass man bei einer Ungehörigkeit erwischt wird.

Mit der Zeit wurde es richtig schwierig mit der Mutter. Die Angst, dass sie während ihrer Abwesenheit irgendwelchen Unfug anstellten könnte, sass ihr immer mehr im Nacken. Manchmal hatte sie dadurch Mühe, sich in der Schule zu konzentrieren oder die nötige Geduld dafür aufzubringen. Das blieb natürlich auch dem Lehrkörper nicht verborgen und so musste sie zunehmend Kritik von dieser Seite abwehren.

Aber auch im Mietshaus mit mehreren Parteien, fand man es mit der Zeit eine Zumutung, dass die alte Frau manchmal mehr als eine Stunde mit dem Lift fuhr oder im Keller herumirrte und wimmernd nach ihrer Tochter rief, weil sie den Ausgang nicht mehr fand. Immer öfter wurde Gertrude darum auch während des Unterrichtes angerufen, was die Schüler jedes mal ausnützten. Aber was hätte sie denn tun sollen? Mit der Zeit hatte sie dann die Mutter in der Wohnung eingeschlossen.
Doch als einmal, mitten am Nachmittag, das Wasser der Badewanne den Mietern der unteren Wohnung in den Flur tropfte und sie deswegen nach einem erbosten Anruf des Hausmeisters, während einer Prüfung über Bruchrechnen nach Hause fahren musste, da stiess sie auf wenig Verständnis, sowohl von Seiten der Schulleitung als auch der Hausverwaltung.
Es wurde nach einer Heimlösung gesucht und auch rasch eine gefunden, sechzig Kilometer entfernt.

Aber obschon das alltägliche Leben ohne Mutter nun einfacher geworden ist und sie weniger praktische Sorgen plagen, glaubt Gertrude, dass die seelische Belastung durch die vielen Besuche im Alterszentrum, im Vergleich zu vorher, stark zugenommen hat.
Der stetige Zerfall ihrer Mutter macht Gertrude schwer zu schaffen. Was ist aus der starken Frau geworden ? Sie ist verstummt, die letzten Worte sind ihr ausgegangen. Sie ist in sich zurück gekehrt und hat sich von dieser Welt bereits verabschiedet.

Doch nicht nur die Gesundheit und das Leiden der Mutter kosten Gertrude viel Kraft.
Früher hatte sie, nebst den Schulvorbereitungen, mit der von der Mutter zunehmend vernachlässigten Hausarbeit und ihrer aufwendigen Pflege soviel zu tun, dass ihr die Zeit fehlte, sich Gedanken über ihre Situation oder gar die eigene Zukunft zu machen.
Aber nun sitzt sie Woche für Woche dreimal stundenlang alleine am Bett ihrer Mutter, die mehrheitlich nur noch schläft oder völlig apathisch gegen die Decke starrt und ihre Besuche nicht einmal mehr wahrnimmt.
Während diesen einsamen Stunden kommt manches in Gertrude zum Vorschein, das sie bisher ständig verdrängt hatte oder gar nicht wusste, dass es da ist. Gedankengänge, die ihr manchmal den Hals zuschnüren möchten oder ihr das Blut in Wallungen bringen. Nur gut, dass niemand sieht, warum sie immer öfter nach einem Taschentuch greifen muss.
Darum ist sie froh, wenn wie heute, Schwester Rosa Dienst hat. Sie nimmt sich immer öfter Zeit, um sich ein bisschen zu ihr hinzusetzen. Gertrude glaubt, dass sie einen guten Draht zueinander haben und die Gespräche mit ihr tun ihr gut. Auch, wenn sie dabei etwas Neues zunehmend aufwühlt.

Gertrude Steiner erschrickt. Wie lange ist sie nun in Gedanken versunken im dunklen Auto gesessen? Hoffentlich hat sie niemand beobachtet. Vorsichtig schaut sie sich um. Keine Menschenseele ist zu sehen, ausser der jungen, etwas fülligen Frau, die erst vor kurzem in das ältere Mietshaus nebenan, zu dem auch ihr Parkplatz gehört, eingezogen ist. Sie kommt vermutlich gerade von der Arbeit, denkt sich Gertrude. Das Holzhaus in seinem erbärmlichen Zustand, das nun völlig im Dunklen liegt, kommt ihr einmal mehr fast etwas unheimlich vor.
Im weissverputzten Haus daneben, in dem sie wohnt, sind hingegen einige Fenster erhellt und im fünften Stockwerk steht, wie so oft jemand, der das Nachbarhaus ständig zu beobachten scheint.
Schnell öffnet sie die Autotüre und eilt hinter dem alten Holzhaus zum schmalen Durchgang, der das marode Nachbarhaus von ihrem moderneren Wohnblock trennt. Sie hat immer ein mulmiges Gefühl, wenn sie in der Dunkelheit diesen schmalen, dunklen Rasenstreifen zwischen der mannshohen Hecke auf der einen und dem alten Haus, mit der schon tagsüber etwas unheimlichen Kellertreppe auf der anderen Seite,  überqueren muss. Die Angst, dass sich dort im Dunkeln jemand versteckt halten könnte löst sich jeweils erst, wenn sie im hellerleuchteten Hauseingang steht. Aber sie ist froh, dass sie wenigsten beim Nachbarhaus einen Parkplatz mieten konnte.

©® Copyright by Herr Oter


:)





3 Kommentare :

Anonym hat gesagt…

Han dr Kommentar ja scho mündlich abgäh ;-) danka für das Privileg :-)) Gärn wider...
T.O.&O.
Ps.und jetz druggi no g.f. B-)

Dekoratz hat gesagt…

Lieber Herr Oter - das ist eine einfache, ehrliche Geschichte, wie sie wohl 1000Mal am Tag irgendwie und irgendwo so vorkommt. Ich hatte einen langen Kommentar geschrieben und habe ihn wieder heraus gelöscht, denn es gibt eigentlich nichts zu sagen.
Ich habe immer gedacht, als lebenserfahrener Mensch kommt man einfacher mit solchen oder ähnlichen Umständen klar - und ich stelle doch immer wieder fest, dass man statt dessen
dünnhäutiger geworden ist - und manchmal kann man sehr genau fühlen, wo die Seele in einem hockt.
Die Geschichte bereichert Deinen Blog! -
Ich grüße Dich herzlich -
Barbara

Herr Oter hat gesagt…

@T.O.&O.:
Ja, das Privileg einer exklusiven, persönlichen Vorab-Lesung hat halt nur eine Lieblings-Schwester.
Dafür sind dabei die Emotionen vielleicht auch etwas grösser und das hat man dann auszuhalten, gell?

@dekoratz:
Wenn man davon in ähnlicher Weise wie Gertrude betroffen ist, liebe Barbara, wenn man all das Belastende rund um die Alzheimer Krankheit kennt, dann wird man nie eine Haut haben, die dick genug ist. Das wurde mir bei einer exklusiven Vorab-Vorlesung dieses Post's wieder einmal bewusst.
Lebenserfahrung hilft in solchen Situationen auch wenig, bloss Abgebrühtheit würde nützen, aber das wollen wir gar nicht haben, nicht wahr?

@beide:
Eure Kommentare haben mich sehr gefreut und Eure Betroffenheit sind mir ein grosses Kompliment.
Entschuldigt bitte den verspäteten Dank.

Liebe Grüsse
Re