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Sonntag, 13. Oktober 2013

Quer durch Frankreich 1 - Die Geisterstadt







Quer durch Frankreich

Durch Frankreich, von links nach rechts, von Ost nach West, von den Bergen bis ans Meer und von Basel am Rhein bis nach Auderville am Ärmelkanal  – und natürlich auch wieder zurück. Das waren spannende 3200 Kilometer, durch grossartige Landschaften mit Himmel und Meer soweit das Auge reicht –natürlich faszinierend für einen Schweizer, der sonst schnell mal einen Berg vor den Augen hat.
Wir besuchten wohlhabende, aber leidenschaftslose Touristenorte mit pulsierendem Leben und mausarme, verträumte Provinz-Dörfer mit viel Charme und baufälligen Häusern, die man zu hunderten kaufen könnte. 
Oft trafen wir auf die überschäumende Ferienstimmung der Gegenwart und verweilten in der bedrückenden Geschichte der leidvollen Vergangenheit. Tausende goldgelbe Strohballen sahen wir auf endlosen Feldern und ebenso viele schneeweisse Grabkreuze und graue Gedenkplatten auf geschichtsträchtigem Gelände, beides vor dem gleichen tiefblauen Himmel.
Freud und Leid, mit dem unsicheren Blick des Fremden gesehen, das nie richtig zu überzeugen vermochte, aber oftmals ziemlich nachdenklich stimmte.
Die Eindrücke dieser Reise waren grossartig und beeindruckend, aber auch aufwühlend und bedrückend. Sie könnten gegensätzlicher nicht sein.


Darüber werde ich hier in mehreren Folgen berichten und dabei nicht nur auf der oberflächlichen Reiseberichterstattung bleiben, sondern manchmal auch ganz schön in die Tiefe gehen und hervorheben, was meine nachträglichen Recherchen auf die vielen Fragen, die sich mir während dieser Reise immer wieder stellten, hervorbrachten.



Teil 1:
Die Geisterstadt

Die ersten beiden Tage unserer zweiwöchigen Sommerreise quer durch Frankreich sind geprägt von langen Autofahrten. Darum benützen wir am ersten Tag zeitsparend die kostenpflichtige Autobahn, denn das facettenreichen Burgund ist das Ziel einer späteren Reise – im Herbst während der Weinlese. Wir wechseln also erst am späten Nachmittag bei Avallon auf die Hauptstrasse N6 und wie immer auf unserer Reise durch Frankreich finden wir trotz Ferienzeit schnell einen angenehmen Campingplatz.
Reserviert haben wir nie, denn zahlreiche französische Gemeinden bieten den Reisenden einen meist preiswerten „Camping Municipal“ an. 

So spannen wir unser Zelt für die erste Nacht zufällig in
Vermenton

auf – einer kleinen Burgunder Gemeinde am Fluss Cure.
Der Campingplatz (Bilder) macht einen sehr gepflegten Eindruck, man ist auch freundlich und er ist recht günstig – aber trotz Hochsaison ist er nur schwach besetzt.

Nach dem Abendessen haben wir Lust auf ein kühles „Blondes“ oder ein Glas „Roten“ – am liebsten einen einheimischen Burgunder – also machen wir uns auf zum nahen Ort. Wir spazieren auf dem idyllisch Uferweg am grosszügigen, öffentlichen Park mit Grillstellen, Holztischen, Bademöglichkeiten und lauschigen Sitzbänken unter stattlichen Bäumen vorbei. Nach der eher verwahrlosten Hafenanlage (Bilder) mit leise schaukelnden Hausbooten treffen wir am Dorfrand auf ein altes Gemäuer das von glasklarem Wasser durchflossen wird. 
 


Dabei muss es sich um eines dieser typisch burgundischen Waschhäuser handeln.
Sie sind oft direkt um eine Quelle herum gebaut oder über eine direkte Zuleitung mit einer verbunden. Das erklärt mir nun auch, warum das kristallklare, frische Wasser ohne ersichtlichen Zufluss plötzlich vorhanden ist.

Der Bau dieser Waschhäuser, oft am selben Ort eines früheren offenen Waschplatzes, begann gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die vielen Epidemien der Vergangenheit bewogen Napoleon die Bauten zu fördern. Der Bau der Waschhäuser wurde im Regelfall aus der jeweiligen Gemeindekasse finanziert, denn auch das oft – nach der Auffassung von kirchlichen und behördlichen Autoritäten – allzu offenherzige und freizügige Verhalten der Waschfrauen an den Waschplätzen sollte unterbunden oder zumindest hinter Mauern versteckt werden. Die nüchternen Zweckbauten, ohne jede Verzierung, waren der Funktion angepasst und mussten an manchen Orten – dort wo das Wasser eher rar warauch noch zur Viehtränke herhalten.
Die ersten Waschhäuser waren ungedeckt, später wurde „der Komfort“ der Frauen mit einer ganzen oder teilweisen Überdeckung erhöht.

Hier in Vermenton sind nur die beiden seitlichen Gänge abgedeckt. Die Waschplätze entlang des mit kaltem Quellwasser gefüllten Wasserbeckens waren damit nur mangelhaft vor dem Wetter geschützt. Die Frauen knieten jeweils auf der teilweise im Wasser liegenden Waschfläche oder anderenorts hinter den ins Wasser getauchten, geneigten Waschsteinen und bearbeiteten mit einem hölzernen Schläger, dem Bleuel, oder bloss mit der Hand mühsam die Wäschestücke. Bürsten waren zu dieser Zeit kaum in Gebrauch, genau so wie Waschsteine oder Waschtische an denen man stehend arbeiten konnte. 
(Link für Bild) 
Mancherorts war ein Ofen eingebaut, der nebst etwas Wärme im Winter auch warmes Wasser und vor allem die kaliumreiche Asche lieferte, die damals als „Waschmittel“ eingesetzt wurde. 
Mit einer Werche (Wehr) am Ende des Waschhauses wurde der Wasserstand im Becken konstant gehalten. 

Da Männer in den Waschhäusern nicht zugelassen waren, wurden diese nebst ihrer eigentlichen Funktion auch zum Treffpunkt der Frauen vom Dorf und aus der Umgebung. Denn „La blanchisserie“ bot trotz der harten Arbeit immer auch etwas Raum für weibliche Freiheit.
Sonst war der Platz der Frau das Zuhause, Abwechslung bot sich selten, Feste waren rar und die Wirtshäuser waren ihnen verwehrt. Es war auch unvorstellbar, dass sie an öffentlichen Versammlungen teilhatten, das blieb den Männern vorbehalten. So war eben das Waschhaus der Ort von fraulicher Begegnung, Austausch und weiblicher Geselligkeit.
Gegenseitige Anteilname, vielleicht etwas seelische Unterstützung und möglicherweise auch tatkräftige Frauensolidarität gab es manchmal nur im Waschhaus, wenn das Heimwesen abgelegen war.

Eine städtische Verordnung regelte die Benutzung der Waschhäuser und die Aufsicht darüber lag dementsprechend bei den ausschliesslich männlichen Ortsbehörden, denn die Frauen hatten damals weder ein Wahlrecht, noch das Recht gewählt zu werden. Auf diese Weise versuchten die Männer auch im Waschhaus Einfluss zu nehmen und wenigstens von aussen die Kontrolle über dieses kleine, weibliche Refugium zu bewahren.

„Le lavoir“– das Waschhaus, war auch immer ein Ort der Kommunikation, dort wo die Frauen ungestört ihre Erfahrungen und Neuigkeiten austauschen konnten – die Guten und die Schlechten, die Wahrheiten, die Vermutungen und auch die Gerüchte.
Durch diesen „Informationsaustausch“ im Zusammenspiel mit der klatschenden Geräuschkulisse beim „Schlagen“ der Wäsche, ist auch das Wort „Klatsch“ entstanden. Aber auch der abwertende Vergleich «geschwätzig wie ein Waschweib» erinnert noch heute  „sprichwörtlich“ an den Tratsch der Wäscherinnen.

Obschon, Sprache war für die Information gar nicht immer notwendig. Denn Wäsche, insbesondere schmutzige, sagt doch einiges über eine Familie aus, wenn man den Schmutz, die Qualität, den Zustand oder die “Fasson“ der Wäsche zu interpretieren weiss.
Diese Art der „Bildsprache“ zeigt sich auch in Ausdrücken wie, «die schmutzige Wäsche anderer waschen» oder «dreckige Wäsche in der Öffentlichkeit waschen» oder «wer fehl am Platz ist, der erbte das Schmutzwasser der anderen» oder «in trüben Wassern kann man nicht sauber waschen».
Aber nicht zuletzt auch wegen der kleinen Kindern, die die Frauen ja meistens mit dabei hatten, konnte nicht immer alles offen ausgesprochen werden.

Manchmal gab es dort natürlich auch Streitigkeiten, die dann auch leicht entarten konnten. Der Bleuel (Wäscheschlegel) fand ein anderes Ziel als vorgesehen oder es wurde mit nassem Leinen um sich geschlagen. An der nötigen Kraft fehlte es den damaligen Frauen ja nicht. «Dir bleut bald was» ist ein Ausdruck dieser schlagfertigen Waschweiber, wenn sie mit dem Bleuel drohten.

Die harte, mühsame Arbeit begann oft in der Morgendämmerung und dauerte manchmal bis zum Eindunkeln. Aber Gesang und Gelächter, etwas zu Essen, ein guter Tropfen, etwas Absinth oder Glühwein liessen auch manchmal die Sorgen des Alltags und Strapazen in der rauen, nasskalten Einrichtung etwas vergessen.
Kurzgesagt, die Burgundischen Waschhäuser waren auch ein Ort voll von prallem Leben.  

Hier in Vermenton, ergiesst sich das kristallklare Wasser am Ende des Waschhauses, heute vermutlich meist ungenutzt, in den Dorfbach. An diesem Abend ist der vom kurzen, aber heftigen Platzregen während des Nachtessens noch immer dreckig braun gefärbt und stinkt etwas.
 



Aber nun strahlt bereits wieder die untergehende Sonne und es ist angenehm warm. Trotzdem – diese Ortschaft mit seinen 1100 Einwohner scheint völlig ausgestorben. Kein Mensch weit und breit. 
Irgendwo in den engen Gassen kläfft zwar ein Hund, auch eine junge, magere Katze streicht um eine Hausecke und jemand rüttelt von innen an einer geschlossenen Holztüre – etwas gespensterhaft das Ganze!
Aber doch, durch ein offenes Fenster sehe ich eine weisshaarige, sehr alte Frau in einer blaugemusterten Kasack-Schürze, die scheinbar in der Küche etwas hantiert. Ist sie die einzige, die noch in dieser "Geisterstadt" lebt, ist man versucht sich zu fragen.
Der Ort, dessen Ortsname "Land der schönen Hügel" bedeutet, ist arm, das sieht man. Die meisten Häuser im Zentrum sind verlottert und viele zum Verkauf angeboten. Läden gibt es ausser einem Supermarkt keine mehr, und wie es scheint auch kein geöffnetes Lokal um etwas zu trinken, denn das einzige Restaurant des Ortes hat am Montag, also am Tag unseres Besuches, geschlossen. Die Strassen sind von Schlaglöchern übersät und alles erscheint mir irgendwie trostlos. Sogar die Kirche „Notre-Dame de Vermenton“ ein stattlicher Bau aus dem 12. Jahrhundert, wirkt keineswegs einladend und ist bei unserem Besuch – natürlich geschlossen. Aber auch so ist ihr schlechter Zustand leicht erkennbar, wie auch die Statuen beim Eingang deutlich zeigen, die sichtlich schon lange auf die Strasse bröckeln.



Auch der mächtige Südturm „Tour de Méridien“ – Rest einer Befestigungsanlage aus dem vierzehnten Jahrhundert an der ehemals wichtigen Nationalstrasse 6, hätte eine Auffrischung dringend nötig.


 Tour Méridien, Vermenton
Autor: Pline - Wikimedia Nr. 0145

Den Namen trägt der Turm, weil daneben das wohl berühmteste Monument dieser Ortschaft steht, die Sonnen-Uhr „Le Méridien“.


 Cadran solaire, Vermenton 
Autor: Pline - Wikimedia Nr. 0154

"Le Méridien" wurde gemäss Gravur im Jahr 1790 erstellt. Sie ist aus heimischem Kalkstein geschaffen und 3 m hoch. Sehr aussergewöhnlich ist ihr doppelseitiges senkrechtes Zifferblatt, je eines in nördlicher und in südlicher Ausrichtung. Der Metallstab für den zeitzeigenden Schattenwurf ist auf einem Meridian parallel zur Rotationsachse der Erde ausgerichtet, daher stammt auch der Name der Sonnenuhr. Er ist aber nur noch auf der Südseite vorhanden.

Das Zifferblatt der Südansicht ist der Nationalstrasse zugewandt. Weil es am besten sichtbar ist, ist es auch reichhaltig verziert. Es wird während des ganzen Tages von der Sonne angestrahlt. Die Stunden sind darum im Halbkreis von 6 Uhr morgens (links oben), über zwölf Uhr mittags (ganz unten), bis abends 6 Uhr (rechts oben) in römischen Ziffern eingraviert.
Darüber, nach einem dekorativen Ornament, die Darstellung der Sonne mit zwei Sternen.
Die eher schlichte, „dunkle“ Rückseite der Sonnenuhr ist weniger sichtbar und der dahinterliegenden Kirche zugewandt. Sie wird von der auf- und untergehenden Sonne nur im Sommer angestrahlt, wenn der Azimut zwischen der Tagundnachtgleiche im März und im September überschritten wird. Darum finden man auf ihr auch nur die römischen Ziffern 4, 5, 6 für die Morgenstunden und die 6 bis 8 für die Abendstunden.

Statt der schmückenden Ornamente und Gestirne findend man auf der Rückseite dafür die mahnenden Worte:
"CRAIGNONS L'ŒIL QUI VOIT TOUT“
"Fürchten wir das Auge, das alles sieht." 
 

Was ist los mit diesem halbausgestorbenen Städtchen, frage ich mich an diesem Abend und danach noch einige Male in den nächsten zwei Wochen. Denn solche „darbende“ Orte gibt es auf unserer Reise viele.
Einige Orte verbreiten zwar noch einen morbiden, verträumten Charme, die meisten aber bereits das Antlitz des Zerfalls und einer tiefgreifenden Hoffnungslosigkeit. Von den Bewohnern verlassen, von der Politik vergessen und vom Zahn der Zeit zerfressen.
Sie alle scheinen auf dem Weg in die moderne Gegenwart irgendwann stehen geblieben zu sein und der starke Niedergang der letzten Jahrzehnte hat seine Spuren deutlich hinterlassen. Die Einwohner scheinen stark überaltert zu sein und ihre Häuser haben den einstigen Glanz der Vergangenheit verloren. Sie sind oft baufällig oder scheinen bereits verlassen. Die Dorfstrassen sind in miserablem Zustand, es gibt oft keine Poststelle und keine Einkaufmöglichkeiten mehr. Man fährt zwanzig Kilometer zum nächsten Supermarkt und auch das Schulhaus steht leer, denn die wenigen Kinder fahren mit dem Schulbus zur nächsten Bezirksschule.

Zuhause suche ich im Internet nach Erklärungen für den fatalen Abstieg von Vermenton.
Für den, den es interessiert, habe ich die Geschichte dieser Kleinstadt zusammengetragen und auch mögliche Gründe herausgefunden oder aus den spärlichen Angaben eine Erklärung interpretiert.


Was ist los mit Vermenton?
Oder die exemplarische Geschichte einer kleinen französischen Provinzstadt –  das ist dann der zweite Teil dieses Reiseberichtes „Quer durch Frankreich“. 
(Zum 2. Teil)





:)


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