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Sonntag, 2. Februar 2014

Das Unglück des Briefträgers







Das Unglück des Briefträgers
 

Wenn der Briefträger zu uns kam, dann läutete es immer zwei mal, kurz nacheinander damals schon, auch bei uns im Bergdorf, und so auch an diesem dramatischen Morgen.


In meiner Jugend kam der Briefträger ja noch täglich zweimal – vormittags und nachmittags.
Manchmal kam er bei uns sogar dreimal – dann, wenn Vater einen „Express“ erwartete. Und, wir bekamen oft einen „Express“; Pakete mit wichtigen Ersatzteilen, die mein Vater für sein Geschäft mit den grossen Kühlanlagen dringend brauchte.
So ein „Express“ wurde damals vom Pöstler zu jeder Tageszeit zugestellt. Morgens kurz vor sieben, nachdem der erste Zug von Landquart gekommen war, oder abends um acht, wenn der Zug auf seiner Fahrt nach Davos zum letzten Mal bei uns Halt machte.

Dazwischen brachte der Pöstler jederzeit einen „Express“ und auch ein „Telegramm“ – kurze, wichtige Mitteilungen, die besonders rasch den Empfänger erreichen mussten. Sie wurden in einer Poststelle aufgegeben und dann über ein weltweites Telegrafen-Netz mittels Kabel an die Post bei uns übermittelt und dort aufgeschrieben. Dieses Telegramm brachte dann der Briefträger auf dem schnellsten Weg – bei uns mit dem Velo, notabene – dem Empfänger. Telegramme brachten meistens besonderes Glück oder grosses Leid, doch immer etwas Aussergewöhnliches – darum kamen Telegramme ganz selten.


Im Sommer, wenn es um sieben noch hell war, kam es auch vor, dass wir Buben vom Vater zum Bahnhof geschickt wurden, um den erwarteten „Express“ mit dem Velo abzuholen. Damit hatte der Pöstler etwas früher Feierabend und wir erledigten diese „wichtige“ Aufgabe gerne. Denn dort war es immer spannend, besonders wenn ein Zug hielt. Nur hielten bei uns ja die Züge nicht so oft, denn vielfach waren es Schnellzüge, die liessen dann, auf ihrem Weg in den berühmten Kurort im Prättigau, unseren kleinen Bahnhof links liegen.

So hockten wir schon frühzeitig ganz gespannt auf der Verladerampe vor dem langen Güterschuppen mit seinen mächtigen Schiebetüren. An den grossen Schuppen war das kleine Holzhäuschen des Bahnhofsvorstandes angebaut – oder war es umgekehrt? Jedenfalls wirkte es so.
Oben wohnte er mit seiner Familie und unten war das Büro mit dem mechanischen Weichenstellwerk. Das Prinzip dieser langen roten und blauen Hebel an den grossen Rädern war mir damals noch nicht klar, denn immerhin bewegte der Herr Bahnhofsvorstand damit „gespenstisch“ draussen die Weichen, wenn er einen dieser Hebel nach unten legte.
Gleich neben dem Büro befand sich – durch den „Billettschalter“, mit seiner dicken Glasscheibe und dem Drehteller, getrennt – der Wartesaal erster und zweiter Klasse. So stand es jedenfalls draussen auf einem Metalltäfelchen an der Türe angeschrieben. Bei unserem kleinen Bahnhof war das eher ein grösseres Wartezimmer für beide Klassen, das ständig nach abgestandenem Rauch stank.

Von unserem erhöhten Sitzplatz auf der Rampe aus, hatten wir einen guten Überblick über das abendliche Geschehen. Doch es geschah noch nicht viel. Zu sehen gab es eigentlich nur zwei Männer, die da standen – der Herr Bahnhofsvorstand und der Pöstler.
Sie standen nebeneinander – breitbeinig im typischen Grätsche-Schritt der Beamten – auf dem meistens leeren Abstellgeleise und schauten in Richtung Landquart, denn von dort sollte der Zug ja kommen.
Jeder stand da in Uniform und mit steifer Mütze – der Bähnler mit der Roten und der Pöstler mit einer Schwarzen. Der eine stand für die RhB und der andere für die PTT – der eine hielt die grüne-weisse Signalkelle in der Hand und der andere hielt sich manchmal an einem kleinen Handwagen fest. Denn ab und zu verbrachte der Briefträger die Zeit zwischen den beiden letzten Zügen im Bahnhofsbuffet – und das waren dann doch immerhin zwei Stunden.
Bahnkunden, die auf den Zug warteten, standen meistens keine da. Denn wer aus unserem Dörfchen wollte um diese Uhrzeit schon noch ins Prättigau.

Sobald die mächtige, rostbraun gestrichene Krokodil-Lokomotive mit einem kurzen Pfiff in den Bahnhof einfuhr, hoben die beiden Beamten fast synchron (meistens) die Hand zum Gruss. Der grüne Postwagen, gleich hinter der zischenden Lokomotive blieb zu unserem Erstaunen immer, wie von Geisterhand gestoppt, genau vor dem Postbeamten mit seinem Wägelchen stehen. Der nahm dann – während der Bahnhofsvorstand ein paar Worte mit dem Lokomotivführer wechselte und eine Handvoll späte Passagiere dem Zug entstiegen – ein, zwei graue Postsäcke in Empfang, die im Durchgang der geöffneten Schiebetüre schon bereitlagen.
Unser „Express“ wurde dem Pöstler am Schluss, zusammen mit anderem Wichtigen, direkt in die Hand gedrückt.

Wir äugten währenddessen durch die breite Öffnung in den Postwagen. Fasziniert von diesem kleine, fahrende Postbüro mit seinen vielen, schmalen Fächern über dem Schreibtisch. An den Wänden hingen ringsum geöffnete Postsäcke. Damit würde die Post sortierte, erklärte uns der Briefträger einmal. Auch hing in jedem Postwagen ein schwarz-weisses Velo (Fahrrad) an einem Hacken – wofür, das weiss ich bis heute nicht.
Aber am meisten erregten uns die beiden schmalen Türen, aussen, auf der rechten Seite des Postwagens. Jede hatte oben ein noch schmaleres Fenster, das mit zwei dicken, runden Eisenstäben quer unterteilt war. Das Transportabteil für Gefangene! Verstohlen linsten wir immer wieder dort hinüber und hofften, mal so einen Gefangenen zu erspähen. Doch nie konnten wir einen entdecken.
Schon bald hob dann der Vorstand seine grün-weisse Kelle, steckte seine Trillerpfeife in die Mundmitte und verabschiedete den Zug mit einem kräftigen Pfiff und aufgeblasenen Backen. Kurz darauf
nahmen wir dann, nicht ohne einen gewissen Stolz, den wichtigen „Express“ aus den Händen des Pöstlers, um ihn zusammen mit seinem Gruss, unverzüglich dem Vater in die Werkstatt zu bringen.


An diesem besagten Unglücksmorgen standen also der Briefträger und meine Mutter, wie meistens, noch kurz im Windfang vor der Haustüre und schwatzten. Denn der Pöstler war mit meinen Eltern schon lange befreundet; sie hatten einige Jahre früher ihre Häuser zusammengebaut. Ein Doppeleinfamilienhaus also. Das kam günstiger, denn es brauchte eine Seitenmauer weniger und nur einen Kamin. Aber der Briefträger hatte inzwischen seine Hälfte bereits wieder an drei alte „Jumpfern“ verkauft und wohnte jetzt oben im Dorf, näher bei der Post.
Mami hingegen ging selten ins Dorf, denn Haushalt und Geschäft, Büro und Garten und wir drei Buben hielten sie anderweitig in Trab. So schätzte sie diesen täglichen, kurzen Tratsch mit dem Briefträger, denn er wusste immer das Neuste aus dem Dorfleben. Schliesslich klingelte er – immer zwei mal, kurz nacheinander damals bei den Meisten mindestens einmal täglich. Manchmal drückte er ihnen auch im Garten, im Stall oder wenn nötig auf der Strasse „die Post“ in die Hand.  
So ein Schwatz dauerte ja normalerweise nur ganz kurz, ausser es war etwas Aussergewöhnliches, dann wurde es länger.

So auch an diesem besagten Morgen.

Auf dem Grundstück nebenan, einer Wiese mit einem Kirschen-, einem Apfel- und einem Birnbaum, waren zwei Männer daran, den Birnbaum auszugraben – aus welchem Grund weiss ich nicht mehr. Wir Kinder standen am Gartenzaun und schauten aus sicherer Entfernung interessiert zu. Nachdem die dicksten Wurzeln dieses Hochstammbaumes freigelegt und abgesägt worden waren, ging es nun darum, den ganzen Baum umzulegen. Einer zog an einem Seil, während der andere mit dem Rücken an den Stamm gelehnt, drückte. Der Baum schwankte zwar, aber er wollte trotz dem lauten Ächzen und Stöhnen der beiden, einfach nicht fallen.
Auch der Briefträger beobachtete, während dem Tratsch mit unserer Mutter, belustigt die Szenerie durch das Fenster im Windfang. Weil der Baum sich weiterhin standhaft wehrte, anerbot er dann grosszügig seine Hilfe. Schliesslich war er gross und kräftig. Nun zogen die beide Männer am Seil, während der sich Postbeamte, nicht ohne etwas Spott über die beiden Schwächlinge, mit dem Rücken am Stamm kräftig ins Zeug legte.
Hooo-Ruck“ – „Hooo-Ruck“, der Baum neigte sich bedrohlich, federte aber wieder zurück. Die Männer strengten sich noch mehr an. Die beiden am Seil und der Pöstler am Stamm brachten sich noch etwas mehr in Schräglage, um mehr Kraft aufzubringen. Mit einem weiteren, lauten „Hoooo-Ruck“ drückte der Pöstler nun ruckartig mit hochrotem Kopf gegen den standhaften Birnbaum.
Ich meine noch heute, ein Knacken gehört zu haben! Ob es der Birnbaum oder der Rücken des Briefträger war, kann ich nicht sagen.
Jedenfalls wechselte das Gesicht unseres Briefträgers von hochrot auf schneeweiss und dann ging der Mann zu Boden, während der Birnbaum noch immer stand.
Das Krankenauto brachte ihn danach ins Spital. Sein Rücken war gebrochen und es brauchte Jahre, bis er einigermassen wieder an Krücken gehen konnte.

Es kam dann ein anderer Pöstler, der weniger Kraft hatte und nichts mehr Neues aus dem Dorf wusste. Er klingelte auch nur noch ganz selten – zwei mal, kurz nacheinander. Man warf „die Post“ meistens nur noch in den Briefkasten im Windfang, ausser wenn wir dafür unterschreiben mussten. Bald kam der Postzusteller dann auch nur noch einmal, am Vormittag, und der Express mussten immer selber am Bahnhof oder im Postbüro geholt werden, wenn man sie ausserhalb der normalen Tour erhalten wollte.





10 Kommentare :

Anonym hat gesagt…

:-) das wusste ich gar nicht....
T.O.&O.

Njala hat gesagt…

Was für eine interessante Erinnerung! Der arme Mann...
An unseren damaligen Postboten erinnere ich mich auch noch sehr gut! Er drückte alle Klingeln und wenn ihm dann jemand öffnete sang er durch den Hausflur: Die POST ist daaaaa... vergess ich nie.
Meine Mutter hat oft geschimpft, weil er sich ihrer Meinung nach zu oft zu lang bei alleinstehenden Damen aufhielt um seinen Schnaps dort zu konsumieren.
Aber ich schwöre, bei allem was an Briefträgern und Trägerinnen nachkam: Keiner hat mehr so schön und sonor wie er gesungen, dass die Post da ist.

Liebe Grüße,
N.

lautleise hat gesagt…

Ja, so war sie, die gute alte Zeit.
Und zum Glück ist das vorbei.
Gefangenentransportabteil? Vorbei!
Heute erfolgt der Transport in einem beheiztem Spezialfahrzeug von Merzedes Benz.
Gut, nicht in allen Ländern...

Sadie´sGedankenfülle hat gesagt…

Eine spannende Erinnerung.
Schade, dass es heute den Postboten im herkömmlichen Sinne nicht mehr gibt, er war für manch kranke, einsame Menschen , die einzige Verbindung zur Außenwelt.
Heute muss man, wenn man etwas abgelegen wohnt seine Post an einer bestimmten Sammelstelle abholen. Die Post gibt es noch, aber sie ist gesichtslos geworden.
LG Sadie

lautleise hat gesagt…

Sadie, bei uns kommt die blonde Postbotin.
Ich stürze aus der Dusche, Bademantel zusammengerafft, murmele: Entschuldigung!
Sagt sie: Ich habe schon Schlimmeres erlebt...

Sadie´sGedankenfülle hat gesagt…

@lautleise, mein Lieber dann hast du ja nochmal Glück gehabt. aber wie sagt man so schön: "Schlimmer geht immer " ;-)
Lg

Herr Oter hat gesagt…

@T.O.&O:
Siehst Du, hier vergrössert man sein Wisseen ;)

@Njala:
Das ist ja lustig, ein singender Postbote!
Ich bin überzeugt, fast alle hätten da so ihre Postboten-Geschichten

@Lautleise:
Nicht bei allen löst das Wort "Gefangenentransporte" scheinbar die gleichen Erinnerungen aus.
Bei uns werden Häftlinge noch immer mit der Bahn zwischen den Kantonen verschoben. Siehe da: http://www.beobachter.ch/wohnen/artikel/gefangenentransport-scharf-bewachte-zuege/

@Sadie:
Du hast recht, der Pöstler war eben mehr als nur ein Postbote. Auch einer der Gründe, warum bei uns "Dorfgemeinschaften" immer mehr aus der Mode kommen.

@alle:
Herzlichen Dank für Eure Bemerkungen.
Ich wünsche Euch allen einen ganz schönen Tag

lautleise hat gesagt…

Vielen Dank für die Aufklärung über die Transportgepflogenheiten in der Schweiz.

Liebe Sadie: Die Bemerkung der Postbotin bezog sich auf den geschlossenen Bademantel, nicht auf einen auch noch so klein wenig geöffneten! Ich bitte Dich, da hätte sie doch ganz anders reagiert!

Sadie´sGedankenfülle hat gesagt…

@ lautleise
Hände über dem Kopf zusammenschlage ;-)

lautleise hat gesagt…

Sie hätte gesagt:
Verdammt, ihnen ist ja ganz kalt!
Hihihi

Herr Oter, jetzt reiss i mi aber a weng zam!