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Freitag, 25. Dezember 2015

Heiligabend am Waldrand





Heiligabend am Waldrand


Ich stehe am Fenster unserer warmen Stube und schaue von oben dem emsigen Treiben auf der verschneiten Dorfstrasse zu. Schmal schlängelt sie sich zwischen den dicken Hausmauern unseres kleinen Bergdorfes hindurch. Durch den vielen zusammengestossenen Neuschnee ist sie noch etwas schmaler geworden. Jetzt, am späteren Nachmittag vor Heiligabend, ist sie aussergewöhnlich bevölkert. Denn die Ferienhäuser der neuen Siedlung am Dorfrand sind alle belebt und auch das kleine Hotel ist über die Festtage jeweils restlos ausgebucht.
Darum herrscht überall Hochbetrieb; so auch im kleinen, aber gut sortierten Laden in der Dorfmitte oder bei der rundlichen Bäckersfrau mit dem knusperigen Holzofenbrot. Und natürlich auch beim alten Flurin, der zwar seinen siebzigsten Geburtstag schon einige Jahre hinter sich hat – seine Metzgerei aber nicht aufgeben mag, weil er keinen Nachfolger findet.
„Wo sollen denn die Leute meine feinen Würste kaufen, wenn es keine Metzgerei mehr gibt“, pflegt er jeweils mit einem Schmunzeln zu sagen.

Die abendliche Dämmerung nimmt zunehmend von der Strasse Besitz, auch wenn sich das kalte Weiss dagegen wehren möchte. Zum Glück spenden inzwischen die wenigen Strassenlaternen zusätzlich ein spärliches, aber irgendwie tröstliches Licht. Dem Tourismus zum Trotz, hat man hier vernünftigerweise auf eine kitschige Weihnachtsbeleuchtung verzichtet – der Weitsicht des alten Flurin sind die meisten heute noch dankbar.

Ein wohliges Gefühl hat sich in mir breit gemacht. So etwas wie Weihnachtsstimmung, wer hätte das vor wenigen Jahren gedacht. Wir sind erst vor drei Jahren, nachdem ich das Geschäft meinem Sohn übergeben konnte, in dieses Haus meiner Eltern eingezogen. Ein schmales, aber solides Häuschen, das vor mehr als zweihundert Jahren ebenfalls mit Weitsicht gebaut wurde. Denn es soll Generationen beherbergen. In diesem Haus fühle ich mich wieder richtig daheim.
Ich mag das einfache Leben in diesem Bergdorf. Ich bin glücklich, weit ab von der Stadt und vom Geschäft zu sein. Mein Sohn macht das gut, da lass ich ihm freie Hand, ich bin froh, habe ich hier meine Ruhe. Nun geht es ihm, wie es Jahrzehnte lang mir gegangen ist. Weihnachten findet an einem kurzen Abend statt und kaum ist man aus dem Büro, sitzt man schon wieder drin. Ich bin froh, dass ich das hinter mir habe und freue mich auf die gemütlichen zwei Abende in unserem Häuschen auf dem Maiensäss.

Plötzlich erklingt von der Strasse herauf, das Weihnachtslied “Stille Nacht, heilige Nacht”. Ich erkenne es an der Melodie - dem dünnen Gesang einer Frauenstimme, begleitet von den hohen Tönen einer Flöte. Die Worte sind hier oben im dritten Stock durch die dicken Fensterscheiben nicht zu verstehen.
Zuerst meine ich, das Lied komme aus einem Musikgerät, doch zu laienhaft ist der Gesang und auch die Flöte trifft nicht immer jeden Ton ganz genau. Ich öffne das Fenster um besser sehen und hören zu können. Ein scharfer, kalter Wind bläst mir sofort ins Gesicht. Meine Augen suchen die gegenüberliegende Strassenseite ab und entdecken unweit rechts, zwei nahe zusammenstehende Gestalten. Das leichte Wippen ihrer dunklen Umhänge lässt darauf schliessen, dass die weihnachtliche Musik von ihnen stammt. Meine Augen gewöhnen sich rasch an die Dunkelheit und ich erkenne eine ärmlich gekleidete Frau, die sich zum Schutz gegen die Kälte ein wollenes Tuch um den Kopf gewunden hat. Ihr dünner Umhang ist vor der Brust stark gewölbt, als ob sie einen Sack oder eine Umhängetasche darunter tragen würde.


Neben ihr steht ein Mann.
Er wirkte noch recht jung und hat sich eine schwarze Pudelmütze über den Kopf gezogen. Seine übrige Kleidung scheint keinen besonderen Schutz gegen die eisige Kälte zu bieten. Er spielt mit klammen Fingern auf einer einfachen, kurzen Hirtenflöte. Kein Wunder, dass er nicht jeden Ton sauber trifft. Hinter ihnen scheint eine Art Reisetasche an der Hauswand zu liegen.
Vor ihnen entdecke ich nun auch einen kleinen Pappkarton, der auf der Strasse liegt – bereit, gespendete Münzen entgegenzunehmen. Ich beuge mich etwas vor und sehe, dass ausser drei, vier Kindern, die an unserer Hauswand lehnen, niemand den beiden zuhört. Alle haben keine Zeit, sind gestresst durch die bevorstehenden Festtage und den damit verbundenen grossen Erwartungen.

Mir scheint, als hätte die Frau soeben kurz zu mir hinaufgeschaut.
Mich fröstelt und so schliesse ich schnell wieder das Fenster. Dann lösche ich das Licht im Wohnzimmer, damit ich die beiden besser beobachten kann. Nimmt mich doch Wunder, wie viel Umsatz so eine kleine Schachtel auf dem Boden einbringen kann.
Doch niemand wirft etwas hinein. Alle hasten vorbei. Kaum jemand hebt einmal den Kopf, denn jetzt hat es auch noch zu schneien begonnen. Alle starren sie auf den Boden und stolpern manchmal trotzdem beinahe über die Schachtel. Ein ärgerliches Hindernis im Fluss der Weihnachtshektik.


Immer wieder blickt die Frau nach oben.
Ich vermute, dass sie mich vielleicht sehen kann. Beschämt ziehe ich die Vorhänge zu, bleibe aber wie gebannt vor dem Fenster stehen. Inzwischen singt sie bereits das dritte Weihnachtslied: 'Macht hoch die Tür, die Tor macht weit!'
Aber niemand öffnet sein Fenster oder kommt aus dem Haus, um der frierenden Strassensängerin ein Almosen zu geben oder sie in die Wärme einzuladen.
Die persönliche Wichtigkeit, die eigenen vermeintlichen Sorgen und die geschäftige Heftigkeit haben die Menschen abgestumpft für die Not ihrer Mitmenschen. Niemand erbarmt sich der beiden Armen dort unten in der Kälte.
Vielleicht stehen noch andere, so wie ich, verborgen hinter Vorhängen auf der warmen Seite am Fenster und denken: ‘Sollen doch die dort unten, die Vorbeigehenden, etwas geben. Die Schachtel steht ja vor ihnen.’

Mir scheint, dass die Frauenstimme immer lauter und eindringlicher klingt und, dass die Flöte immer schriller in mein warmes Wohnzimmer dringt. Und immer wieder schaut diese Frau zu unserem Fenster hinauf – mir wäre lieber sie würde endlich aufhören zu singen und gehen. Sollen sie doch einsehen, dass hier, in unserem friedlichen Bergdorf nichts zu holen ist. Sollen sie doch in die Städte gehen und dort betteln, nicht hier in unserer heilen Welt.

Doch unermüdlich singt die Frau weiter und nun stimmt auch der Mann noch mit ein:
'Oh du fröhliche, oh du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit'.
Viel zu laut, die Männerstimme! Brüchig, rau, fast etwas trotzig, wie mir scheint. Wie viel schöner war es doch, als nur die Frauenstimme gesungen hat und er dafür in die Flöte blies.
Ich wende mich vom Fenster ab, ich habe genug von dem Weihnachtsspektakel da draussen. Was bin ich froh, dass ich mir das Ganze nicht mehr antun muss – haufenweise unnötige Geschenke, wo doch so viele kaum etwas haben. So viele, üppige Festessen, angesichts dieser vielen Hungernden. Nein, damit will ich nichts mehr zu tun haben! Das ist doch reiner Unsinn oder ist es einfach mein schlechtes Gewissen?

Ich gehe zur Küche, um zu sehen, ob Madlaina inzwischen alles für die Hütte eingepackt hat. Viel braucht es ja nicht, etwas Gemüse, ein paar Zwiebeln, ein rechtes Stück Speck – Gerste für die Suppe hat es sicher noch oben. Und morgen machen wir ein gemütliches Fondue.
Ich bin froh, dass wir punkto Weihnachten gleicher Meinung sind und auch sie sich auf diese zwei gemütlichen Tage ohne Hektik und Stress freut.
Die beiden Rucksäcke stehen in der Küche bereit, also höchste Zeit die warmen Winterstiefel anzuziehen.

Da klingelt es an der Haustüre.
Wer kommt denn jetzt noch, denke ich leicht verärgert und schliesse auf.
Da fährt mir der Schreck in alle Glieder!
Draussen steht die Frau, die auf der Strasse unten die Weihnachtslieder gesungen hat.
Instinktiv will ich die Türe gleich wieder schliessen. Aber die linke Hand, die das tun soll, ist wie gelähmt. Stocksteif stehe ich in der Türe und schaue in zwei sonderbare Augen. Augen wie ich sie noch nie gesehen habe – voller Warmherzigkeit und Güte. Ein Blick, der sofort den Weg in mein Herz findet.
Die Frau sagt kein Wort, nur ihre Augen sprechen zu mir. Ich kann meinen Blick nicht abwenden. Mir ist, als sähe ich in eine andere Welt! Ein Garten Eden der vollkommenen Liebe und Harmonie – ja, ich habe ins Paradies gesehen.

Ich muss den Blick senken, soviel Sanftmut und Wärme ist kaum zu ertragen. Nun sehe ich auch, was die Frau im leicht zurückgeschlagenen Umhang vor der Brust trägt. Ein Baby in einem Umhängetuch. Das trotz der eisigen Kälte etwas gerötete Köpfchen ruht auf ihrer Brust. Es mag vielleicht ein Jahr alt sein und scheint zu schlafen.
Mechanisch wandert meine rechte Hand zur hinteren Hosentasche und zieht den Geldbeutel hervor. Mist, ich habe nur zwei 50er-Noten. Etwas zögerlich trenne ich mich von einer.
„Danke“, sagt eine feine Stimme. Ich schaue wieder hoch und erfasse nun das ganze Gesicht. Es ist jung und hübsch, etwas fahl und ziemlich bleich mit blaugefrorenen Lippen. Doch umso faszinierender sind diese warmherzigen Augen.
„Danke, danke viel“, stammelt die junge Frau nochmals in gebrochenem Deutsch.

Nun scheint der Bann gebrochen und ich schliesse ohne ein Wort schnell die Türe. Mein Herzschlag hat sich erhöht, ich muss mich kurz am Türrahmen festhalten. Ich frage mich, warum ich mich etwas schäme.

„Wer war es“, ruft Madlaina aus dem Schlafzimmer. Ich atme tief durch:
„Eine Bettlerin!“ sage ich mit möglichst gleichgültiger Stimme.
„Ach, haben wir die nun auch schon da oben bei uns? Die nutzen doch einfach die Freigiebigkeit der Menschen in der Weihnachtszeit aus. Hast Du etwas gegeben?“
„Ja, ein wenig“, gebe ich zur Antwort und wundere mich gleichzeitig, dass ich etwas gegeben habe. Vielleicht liegt es doch am heutigen Tag.




 © Bild von: werner22brigitte  / Lizenz: CC0  / by: pixabay


Wenig später waten wir mit den Stöcken durch den kniehohen Neuschnee dem oberen Waldrand entgegen. Der Schneefall hat inzwischen aufgehört und die Wolken haben dem Sternenhimmel Platz gemacht. Das Häuschen liegt wenig unterhalb der kaum noch befahrenen alten Passtrasse, die nach Italien führt. Auch wenn das 'Maiensäss' bequem mit dem Auto erreichbar wäre, gehen wir doch meistens zu Fuss hinauf. Die Wegstrecke von gut einer Stunde ist zu jeder Jahreszeit einfach faszinierend. Besonders auch in einer dunklen Winternacht mit Vollmond ist die Aussicht auf das Dörfchen im Tal unten besonders anmutig.

Ich habe das gemütlich ausgebaute Bauernhaus vor Jahren von meinen Eltern geerbt, es immer gut im Schuss gehalten; doch erst in den letzten Jahren so richtig schätzen gelernt. Seit der Pensionierung verbringen wir immer öfter Zeit hier oben, weit ab von der Zivilisation. Wir lieben das gesunde, einfache Leben in der Natur immer mehr. Die saubere Luft, das frische Wasser, die Ruhe und die grandiose Aussicht in die Bergwelt ist durch nichts zu ersetzen.
Im Sommer haben wir im ehemaligen, kleinen Schafstall neben dem Haus tüchtig Brennholz aus unserem Waldstück aufgefüllt und schon bald wird ein gemütliches Feuer im Herd uns eine herrliche Gerstensuppe bescheren und der unvergleichliche Duft, der im Ofenrohr schmorenden Bratäpfel wird durch das ganze Häuschen ziehen. Zufriedenheit mischte sich mit gemütlicher Behaglichkeit und diese wahrhaftige Feststimmung brauchte keine weiteren Geschenke. Heiligabend, wie ich es mir schon immer insgeheim gewünscht habe.

Bereits haben wir das dunkle, untere Waldstück hinter uns gelassen und stehen nun vor der weiten, weissen Fläche des oberen Maiensässes. Bereits meine Grosseltern haben die Matten verkauft, nur die beiden Gebäude dort oben, haben sie behalten. Zum Glück, so etwas wäre heute unbezahlbar. Das Weiss des Schnees reflektiert das Vollmondlicht und es ist fast taghell. Ich schaue den Hang hinauf. Wie unheimliche, riesige Schatten stehen die hohen Tannen oben an der Gebirgsstrasse. Darunter duckt sich unser Häuschen an den Waldrand, als ob es dort Schutz suchen würde. Daneben, der ehemalige Stall, der nebst dem Brennholz auch Platz für eine kleine Werkstatt bietet. Das ist mein kleines persönliches Reich, in dem ich mich im Sommer stundenlang beschäftigen kann.
In einer Viertelstunde sind wir oben.

Mir ist, als ob ich gerade eine flüchtige Bewegung neben dem kleinen Stall gesehen hätte, aber das ist unmöglich. Niemand kommt hierher, sowieso nicht im Winter. Zudem hinterlassen wir beide gerade die ersten Spuren im unberührten Neuschnee der grossen Waldlichtung.
Und doch, je näher wir uns unserem kleinen Paradies nähern, desto mehr habe ich das Gefühl, als ob etwas nicht wie gewöhnlich ist.
Kleine helle Punkte an der Holzwand des Schopfes werden sichtbar. Glühwürmchen im Winter? Nein, Licht das durch die feinen Ritzen dringt.

„Madlaina, schau mal“, sage ich. „Ist da jemand im Holzschopf?“
Ich nehme die beiden Gehstöcke etwas fester in die Hand.

„Hallo, ist das jemand“, rufe ich, sobald wir die kurze, ebene Fläche vor den beiden Gebäuden betreten. Sofort verschwinden die Lichtpunkte an der Hüttenwand. Nichts rührt sich. Mit dem ausgestreckten linken Arm bedeute ich Madlaina, dass sie zurückbleiben soll, während ich den gewichtigen Rucksack in den Schnee gleiten lasse und die Taschenlampe aus der Jacke ziehe. Langsam gehe ich auf die Stall­türe zu, den einen Wanderstock wie eine Stichwaffe vor mich herhaltend.
Nochmals rufe ich „Hallo“, nicht zuletzt um mir mit meiner eigenen Stimme etwas Mut zu machen. Nun ist ein leises Wimmern zu hören.

Nur zögernd öffne ich die Türe, jederzeit gewahr, dass ein Tier oder gar ein Ungeheuer herausschiessen könnte. Mit der starken Taschenlampe zünde ich ins Innere. Zwei Menschen mit angstvoll aufgerissenen Augen starren mich an und ich erblickte die gleichen Augen, die mich auch schon am Nachmittag in ihren Bann gezogen hatten. Da sitzt starr vor Schreck die Bettlerin mit ihrem Mann am alten Holztisch. Die beiden halten schützend einen Arm vor das Gesicht, weil meine Taschenlampe sie blendet. Ich senke den Lichtstrahl zum Tisch. Dort liegt mein alter Militärmantel und darin vermute ich das Baby. Instinktiv ergreift die Frau das Bündel und drückt es an sich.
Der Mann steht auf und stellt sich mit einem dicken Stock in der Hand, schützend neben seine Frau.
Dieses Bild erfasst sofort mein Herz.
Wie Josef und Maria im Stall!



 © Bild von: 683440  / Lizenz: CC0  / by: pixabay  

Hinter mir spüre ich Madlaina, die nun ebenfalls unter der Türe steht.
„Oh, Hallo“, sagt sie mit ruhiger Stimme und macht einen Schritt vorwärts. Ihre Anwesenheit löst sofort die Spannung und macht einer gespannten Aufmerksamkeit Platz.
„Hallo, wer sind sie?“ fragt Madlaina mit sanfter Stimmung.
„Die Bettlerin“, raune ich ihr zu und ziehe meine Mütze vom Gesicht.
Sofort entspannt sich das Gesicht der jungen Frau, was auf ein Wiedererkennen schliessen lässt. Schnell flüstert sie einige unverständliche Worte zu ihrem Mann, worauf er sich ermattet wieder auf die Bank setzt.
Madlaina geht zu der Frau hin, legt einen Arm um Ihre Schultern und deutet auf meinen grünen Filzmantel:
„Baby“?
Die junge Frau nickt und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.
„Kommen sie“, sanft schiebt Madlaina die beiden in Richtung Türe.

Der junge Mann beobachtet mich weiterhin misstrauisch.
„Hallo, ich bin Andri.“
Mit ausgestrecktem Arm bewege ich mich auf ihn zu. Er steht sofort auf, streckt mir seine Hand entgegen und stammelt etwas, das sich wie Farid anhört.
„Sprechen sie Deutsch, Englisch, Italien?“ frage ich.
„Yes, Englisch…..“, sagt mein Gegenüber.
„Ok, let us also go into the house – to the women. But first, I need some firewood.
Hilfsbereit hilft der junge Mann mit, gespaltenes Holz in einen Weidenkorb zu legen.
Ich versorge noch schnell unsere Wanderstöcke. Während ich die beiden Rucksäcke schultere, hebt der Fremde den schweren Korb hoch, um ihn ins Haus zu tragen,.
Dann wirft er einen Blick auf die kleine Reisetasche, die noch auf der Bank steht.
„That's OK“, sage ich und mache eine beschwichtigende Handbewegung, dass er sie dort stehen lassen soll. Auch ein weisser Plastiksack und eine ausgeblasene, dicke Kerze bleiben auf dem Tisch zurück.

Im Haus brennt bereits ein kräftiges Feuer im Herd und wärmt langsam den Wohnraum. Die fremde Frau sitzt auf dem Sofa und hält sich das Baby unter ihrem Umhang an die Brust. Farid setzt sich neben sie.
„Nun wollen wir erst einmal die Gerstensuppe zum Kochen bringen.“
Madlaina hat bereits Zuhause das Gemüse und die Zwiebeln kleingemacht und schon bald wird ein herrlicher Duft die Küche durchziehen.
„Hungry?“ frage ich und die beiden nicken heftig.

Jetzt steht Farid auf und geht aus dem Haus. Bald kommt er mit dem weissen Plastiksack von der Bäckerei im Dorf zurück und packt ein grosses, knusperiges Brot und eine dicke Wurst aus.
Geld konnten die beiden mit ihrem Gesang kaum sammeln, es reichte gerade mal für ein paar Kerzen. Aber wenigstens der alte Flurin hatte mit ihnen Mitleid und kam mit der grossen Wurst aus dem Laden. Schnell hatte er die Bäckersfrau davon überzeugt, dass auch zur besten Wurst, viel Brot gehört.

Mit einer einladenden Handbewegung und einem „Please“ zeigt Farid nun an, dass er uns zum Mitessen einladen möchte. Und weil die Suppe schon noch eine Stunde auf dem Holzherd köcheln sollte, stillen wir gerne inzwischen den ersten Hunger mit Wurst und Brot.
So sitzen wir schon bald zu viert um den Tisch. Die kleine Myriam liegt gut versorgt in unserem grossen Bett und schläft.

Die anfängliche Scheu legt sich schnell.
Wir erfahren von einem grässlichen Krieg im Heimatland, von einer beschwerlichen Flucht voller Entbehrungen, die bereits über anderthalb Jahre dauert. Von Gefängnis und Geiselnahme, von Schutz-, Schmier- und Schleppergeldern und einer schier endlosen Aneinanderreihung von widerlichsten Umständen.
Aber sie erlebten auch Schönes: Die Geburt ihrer Tochter vor zehn Monaten; den Unterschlupf, den sie in den ersten drei Monaten danach bei einer wildfremden, einfachen Familie fanden und immer wieder Solidarität von herzensguten Menschen.

Der letzte Schlepper hat sie dann für viel Geld auf der Passstrasse soweit gefahren, wie es der Neuschnee zuliess. Nachdem er mit dem ausgestreckten Arm auf das verlassene Zollhäuschen hoch oben auf dem Berggrat gezeigt hatte, ist er schnell verschwunden und hat sie alleine zurückgelassen. Zu Fuss haben sich die Beiden auf der tiefverschneiten Passtrasse über die Grenze gekämpft und sind dabei auf unser Häuschen gestossen. Weil der alte Stall unverschlossen war, suchten sie dort gestern Abend Unterschlupf. Aber die Kleine bekam hohes Fieber und so wagten sie sich heute in unser Dorf. Mit meinen fünfzig Franken bezahlten sie die Medikamente, für unseren längst pensionierten Doktor reichte das Geld jedoch nicht mehr. Zum Glück hatte er grosszügig auf sein Honorar verzichtet. Wie es nun weiter gehen soll, das wissen sie nicht.

Wir reden noch lange, bis weit nach Mitternacht. Nahla ist irgendwann auf dem Sofa eingeschlafen. Doch Farid scheint froh zu sein, endlich einmal jemandem sein Schicksal erzählen zu können; ich glaube er vertraut uns.

Wir beschliessen, den beiden unser Bett zu überlassen, damit die Kleine nicht geweckt werden muss. Madlaina und ich schlafen auf den Etagenbetten im Zimmer nebenan. Morgen werden wir ins Dorf hinunter gehen um genügend Esswaren, Kleider und Sachen für das Baby zu holen, damit die junge Familie vorerst einige Tage in unserem Häuschen wohnen kann. Sobald die Festtage vorbei sind, werde ich alles unternehmen, dass sie in unserer Gemeinde  wohnen bleiben können. Sie werden die ersten Flüchtlinge im Bergdörfchen sein und es braucht bestimmt viel Überzeugungskraft bei den alteingesessenen Dorfbewohnern. Aber drei Verbündete haben wir bereits, den alten Doktor, die Bäckersfrau und natürlich Flurin – dem alten Metzgermeister vertrauen die Leute.
Ich freue mich darauf, etwas Sinnvolles und Nützliches tun zu können, um den Beiden zu helfen.
Denn Dank ihnen habe ich zum ersten Mal erfahren, was Heiligabend und Weihnachten wirklich ist.

© Copyright by Herr Oter  (Dezember 2015)




Ich wünsche allen schöne Festtage.


:)

5 Kommentare :

T.O. and O. hat gesagt…
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Herr Oter hat gesagt…
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chat noir hat gesagt…
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Herr Oter hat gesagt…
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Luzia hat gesagt…
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