Das Unglück des Briefträgers
Wenn
der Briefträger
zu uns kam, dann läutete es
immer
zwei
mal, kurz
nacheinander
–
damals schon, auch
bei uns im
Bergdorf, und
so auch an diesem dramatischen Morgen.
In
meiner Jugend kam der Briefträger
ja
noch täglich
zweimal – vormittags und nachmittags.
Manchmal
kam er bei uns sogar dreimal
– dann, wenn Vater einen „Express“ erwartete. Und, wir bekamen
oft
einen „Express“; Pakete mit wichtigen Ersatzteilen, die mein
Vater für sein Geschäft mit den grossen Kühlanlagen dringend
brauchte.
So
ein „Express“ wurde damals vom
Pöstler zu
jeder Tageszeit zugestellt. Morgens
kurz vor sieben, nachdem
der erste Zug von Landquart gekommen
war,
oder abends um acht, wenn der
Zug
auf seiner Fahrt nach Davos zum letzten Mal
bei
uns Halt
machte.
Dazwischen
brachte der Pöstler jederzeit einen
„Express“
und auch ein „Telegramm“ – kurze, wichtige Mitteilungen,
die
besonders
rasch den Empfänger erreichen mussten. Sie wurden in
einer Poststelle aufgegeben und
dann über
ein weltweites
Telegrafen-Netz
mittels
Kabel
an
die Post bei uns übermittelt und
dort
aufgeschrieben.
Dieses
Telegramm
brachte
dann
der
Briefträger
auf dem schnellsten Weg – bei
uns mit
dem Velo, notabene – dem
Empfänger. Telegramme
brachten meistens besonderes Glück oder grosses Leid,
doch immer etwas
Aussergewöhnliches –
darum
kamen
Telegramme ganz selten.
Im
Sommer, wenn es um
sieben noch hell war, kam es
auch
vor, dass wir Buben vom Vater zum Bahnhof geschickt wurden, um den
erwarteten „Express“ mit dem Velo abzuholen. Damit hatte
der
Pöstler etwas
früher
Feierabend und
wir
erledigten
diese „wichtige“ Aufgabe
gerne. Denn dort
war es immer
spannend,
besonders wenn ein Zug hielt.
Nur hielten bei uns ja die
Züge nicht
so oft, denn vielfach waren es Schnellzüge, die liessen dann,
auf ihrem Weg in den berühmten Kurort im Prättigau, unseren kleinen
Bahnhof links liegen.
So
hockten wir schon
frühzeitig
ganz
gespannt auf der
Verladerampe vor dem langen Güterschuppen mit seinen mächtigen
Schiebetüren. An den grossen Schuppen war das kleine Holzhäuschen
des Bahnhofsvorstandes angebaut – oder war es umgekehrt? Jedenfalls
wirkte es so.
Oben
wohnte er mit seiner Familie und unten war das Büro mit dem mechanischen Weichenstellwerk. Das Prinzip dieser
langen roten und blauen Hebel an den grossen Rädern war mir damals
noch nicht klar, denn immerhin bewegte der Herr Bahnhofsvorstand
damit „gespenstisch“ draussen die Weichen, wenn er einen dieser
Hebel nach unten legte.
Gleich
neben dem Büro befand sich – durch den „Billettschalter“, mit
seiner dicken Glasscheibe und dem Drehteller, getrennt – der
Wartesaal erster und zweiter Klasse. So stand es jedenfalls
draussen
auf einem Metalltäfelchen an der Türe angeschrieben. Bei unserem
kleinen Bahnhof war das eher ein grösseres Wartezimmer für beide
Klassen, das ständig nach abgestandenem Rauch stank.
Von
unserem erhöhten Sitzplatz auf der Rampe aus, hatten wir einen guten
Überblick über das abendliche Geschehen. Doch
es geschah noch nicht viel. Zu sehen gab es eigentlich nur zwei
Männer, die da standen – der Herr Bahnhofsvorstand und der
Pöstler.
Sie
standen nebeneinander – breitbeinig im typischen Grätsche-Schritt
der Beamten – auf dem meistens leeren Abstellgeleise und schauten
in Richtung Landquart, denn von dort sollte der Zug ja kommen.
Jeder
stand da in Uniform und mit steifer Mütze – der Bähnler mit der
Roten und der Pöstler mit einer Schwarzen. Der eine stand für die
RhB und
der andere für die PTT
– der eine hielt die grüne-weisse Signalkelle in der Hand und der andere
hielt sich manchmal an einem kleinen Handwagen fest. Denn ab und zu verbrachte der Briefträger
die Zeit zwischen den beiden letzten Zügen im Bahnhofsbuffet – und
das waren dann doch immerhin zwei Stunden.
Bahnkunden,
die auf den Zug warteten, standen meistens keine da. Denn
wer
aus unserem Dörfchen wollte um diese Uhrzeit schon noch ins
Prättigau.
Sobald
die mächtige, rostbraun gestrichene Krokodil-Lokomotive mit einem kurzen Pfiff
in den Bahnhof einfuhr, hoben die beiden Beamten fast synchron
(meistens)
die
Hand zum Gruss. Der grüne Postwagen, gleich hinter der zischenden
Lokomotive blieb zu unserem Erstaunen immer, wie von Geisterhand
gestoppt, genau vor dem Postbeamten mit seinem Wägelchen stehen. Der
nahm dann – während der Bahnhofsvorstand ein paar Worte mit dem
Lokomotivführer wechselte und eine Handvoll späte Passagiere dem
Zug entstiegen – ein, zwei graue Postsäcke in Empfang, die im
Durchgang der geöffneten Schiebetüre schon bereitlagen.
Unser
„Express“ wurde dem Pöstler am Schluss, zusammen mit anderem Wichtigen,
direkt in die Hand gedrückt.
Wir
äugten währenddessen durch die breite Öffnung in den Postwagen.
Fasziniert von diesem kleine, fahrende Postbüro mit seinen vielen,
schmalen Fächern über dem Schreibtisch. An den Wänden hingen
ringsum geöffnete Postsäcke. Damit würde
die Post sortierte, erklärte
uns
der Briefträger
einmal.
Auch hing in jedem Postwagen ein schwarz-weisses Velo (Fahrrad) an
einem Hacken – wofür,
das weiss
ich bis heute nicht.
Aber
am meisten erregten uns die beiden schmalen Türen, aussen, auf der
rechten Seite des Postwagens. Jede hatte oben ein noch schmaleres Fenster,
das mit zwei dicken, runden Eisenstäben quer unterteilt war. Das
Transportabteil für Gefangene! Verstohlen linsten wir immer wieder
dort
hinüber und hofften, mal so einen Gefangenen zu erspähen. Doch nie
konnten wir einen entdecken.
Schon
bald hob dann der Vorstand seine grün-weisse Kelle, steckte seine
Trillerpfeife in die Mundmitte und verabschiedete den Zug mit einem
kräftigen Pfiff und aufgeblasenen Backen. Kurz
darauf nahmen wir dann, nicht ohne einen gewissen Stolz, den wichtigen „Express“
aus den Händen des Pöstlers, um ihn zusammen mit seinem Gruss,
unverzüglich dem Vater in die Werkstatt zu bringen.
An
diesem besagten Unglücksmorgen standen
also der
Briefträger und meine Mutter, wie
meistens, noch kurz
im
Windfang vor der
Haustüre und schwatzten. Denn
der
Pöstler war mit meinen Eltern schon lange befreundet; sie hatten
einige Jahre früher ihre Häuser zusammengebaut. Ein
Doppeleinfamilienhaus also. Das kam günstiger, denn es brauchte eine
Seitenmauer weniger und nur einen Kamin. Aber der Briefträger
hatte inzwischen seine Hälfte bereits wieder an drei alte „Jumpfern“
verkauft und wohnte jetzt oben im Dorf, näher bei der Post.
Mami
hingegen ging
selten ins Dorf, denn Haushalt und Geschäft, Büro und Garten und
wir drei Buben hielten sie anderweitig in Trab. So
schätzte
sie diesen täglichen, kurzen Tratsch mit dem Briefträger,
denn er wusste immer das Neuste aus dem Dorfleben. Schliesslich
klingelte er
– immer
zwei
mal, kurz
nacheinander
–
damals
bei
den Meisten mindestens einmal täglich. Manchmal
drückte
er
ihnen
auch
im
Garten, im Stall oder
wenn nötig auf der Strasse „die
Post“
in
die Hand.
So
ein Schwatz dauerte ja normalerweise
nur ganz kurz, ausser es war etwas Aussergewöhnliches,
dann wurde es länger.
So
auch an diesem
besagten Morgen.
Auf
dem Grundstück nebenan, einer Wiese mit einem Kirschen-, einem
Apfel- und einem Birnbaum, waren
zwei
Männer daran, den Birnbaum auszugraben – aus welchem Grund weiss
ich nicht mehr. Wir Kinder standen am Gartenzaun und schauten aus
sicherer Entfernung interessiert zu. Nachdem die dicksten Wurzeln
dieses Hochstammbaumes freigelegt und abgesägt worden waren, ging es
nun darum, den ganzen Baum umzulegen. Einer zog an einem Seil,
während der andere mit dem Rücken an den Stamm gelehnt, drückte.
Der Baum schwankte zwar, aber er wollte trotz dem
lauten Ächzen
und Stöhnen
der beiden,
einfach nicht fallen.
Auch
der Briefträger beobachtete, während dem Tratsch mit unserer
Mutter, belustigt die Szenerie durch das Fenster im Windfang. Weil
der Baum sich
weiterhin
standhaft
wehrte,
anerbot er dann grosszügig seine Hilfe. Schliesslich war er gross
und kräftig. Nun zogen die beide Männer am Seil, während der sich
Postbeamte, nicht ohne etwas Spott über die beiden Schwächlinge,
mit dem Rücken am Stamm kräftig ins Zeug legte.
„Hooo-Ruck“
– „Hooo-Ruck“, der Baum neigte sich bedrohlich, federte aber
wieder zurück. Die Männer
strengten sich noch mehr an. Die
beiden
am Seil und der Pöstler am Stamm brachten sich noch etwas mehr in
Schräglage, um mehr Kraft aufzubringen. Mit
einem weiteren, lauten „Hoooo-Ruck“ drückte der Pöstler nun
ruckartig
mit hochrotem Kopf gegen den standhaften Birnbaum.
Ich
meine noch heute, ein Knacken gehört zu haben! Ob es der Birnbaum
oder der Rücken des Briefträger
war, kann ich nicht sagen.
Jedenfalls
wechselte das Gesicht unseres Briefträgers von hochrot auf schneeweiss
und dann ging der Mann zu Boden, während der Birnbaum noch immer
stand.
Das
Krankenauto brachte ihn danach
ins Spital. Sein Rücken war gebrochen und es brauchte Jahre, bis er
einigermassen wieder an
Krücken gehen
konnte.
Es
kam dann ein anderer Pöstler, der weniger Kraft hatte und nichts
mehr Neues aus dem Dorf wusste. Er klingelte auch nur noch ganz
selten – zwei
mal, kurz
nacheinander.
Man
warf „die
Post“ meistens nur noch in den Briefkasten im Windfang, ausser wenn wir dafür unterschreiben mussten. Bald kam der Postzusteller dann auch nur noch
einmal, am Vormittag, und der
Express mussten immer selber am Bahnhof oder im Postbüro geholt
werden, wenn man sie ausserhalb der normalen Tour erhalten wollte.
;)