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Dienstag, 5. April 2016

Der letzte Blumenstrauss




Der letzte Blumenstrauss

 
Nun ist er nicht mehr.
Das geht nicht ganz spurlos an mir vorbei, denn ich mochte ihn. 

Wir hatten uns gut verstanden - wir zwei 'Kleingewerbler’, wie er oft sagte. Obschon, klein war nur ich, er war grösser. Sein Produktionsbetrieb beschäftigte einige Mitarbeiter mehr.
Trotzdem fanden wir immer ein gemeinsames Thema: das 'Geschäften', die Strategien, die Werte, die schwierigen Umstände, das Loslassen und manchmal auch die Ehefrauen.


Seine verlor er früh an die Endlichkeit. Vielleicht schwärmte er darum so oft von ihr. 

“Sie war halt eine ganz besonders Gute”, sagte er immer wieder. „En Chrampfchaib, weisch.” Familie, Geschäft, Freunde – alles habe sie unter einen Hut gebracht. Leider habe er das nicht immer genug geschätzt. Zu viel sei er gehässig, gestresst – manchmal auch überfordert und unsicher gewesen. „Wahrscheinlich deswegen war ich auch oft hart und unerbittlich.”
Aber es brauche vermutlich gewisse Eigenschaften um grossen Erfolg zu haben, doch die würden dann nicht immer gleichzeitig zu einem toleranten, verständnisvollen Ehemann passen.
Ich habe ihn verstanden. Wie so oft waren nur wenige Worte zwischen uns nötig, um ein ganzes Lebensgefühl zu beschreiben.

Später heiratete er dann nochmals – eine jüngere, besonders attraktive Blonde. Aber von ihr schwärmte er nie.
Ein richtiges Mauerblümchen sei sie damals gewesen, haben mir andere erzählt, schüchtern, gehemmt und mit fast fünfzig immer noch ledig.

Im Heim, viele Jahre danach, als ich die beiden kennenlernte, war sie dann genau das Gegenteil. Denn dort hängte sie sich mit der Zeit den Männern an den Hals, liebäugelte mit jedem und später forderte sie sogar Fremde zum Küssen auf. Das war peinlich, doch Schuld war ihre Demenz!
Diese Krankheit veränderte die Frau mit siebzig komplett. Manchmal schämte ich mich für sie und er tat mir leid, denn das war nicht mehr die, die sie mal war.

Anfangs, so erzählte man mir, hätten sie deswegen oft gestritten, laut, hemmungslos, auch mitten im Speisesaal oder im Café. Manchmal sei er auch grob zu ihr gewesen – ich denke, er verstand sie einfach nicht mehr, besonders in gewissen Momenten. Denn beide hatten Mühe mit der Realität – was ist jetzt, was war mal. Manchmal vermischt sich alles und dann hat man vieles nicht mehr unter Kontrolle, auch sein eigenes Tun nicht einmal mehr.

Später haben ihn ihre Ausfälligkeiten scheinbar kalt gelassen, wenigstens liess er sich nichts mehr anmerken. Teilnahmslos schaute er ihr beim unermüdlichen Tanzen zu, ihre Schäkereien mit anderen ignorierte er einfach oder spülte sie mit einem Schluck Wein runter. Interessierte seine Frau ihn überhaupt noch? Denn langsam war er in sich versunken, ins Früher, ins Desinteresse und in die Teilnahmslosigkeit.

Irgendwann waren beide stiller geworden, sie kam in den Rollstuhl, ihn sah man immer weniger.

Dann, vor zehn Tagen, musste sie ins Spital. Nichts Ernstes. Er hatte es ruhig hingenommen. Nach einigen Tagen würde sie ja zurückgebracht.

Doch plötzlich blühte er dann auf und ging geschäftig umher.
Ein schöner Empfang für die Rückkehr seine Frau müsse es werden: Seine Kinder würden da sein, die wenigen Freunde von früher würden am Tisch sitzen und für alle habe er ihr Lieblingsessen bestellt.
Das Fest wurde dann genau so, eindrücklich und fröhlich. Er, gekleidet wie schon lange nicht mehr.
Irgendwann wurde vom Gärtner ein riesiger Blumenstrauss geliefert. Er nahm ihn am Eingang persönlich in Empfang und brachte ihn ihr an den Tisch. Sie küssten sich innig. „Du bist ein ganz Lieber”, flüsterte sie ihm zu und streichelte zärtlich über seine Wange. Beide strahlten sich an, als wäre es nie anderes gewesen.
Er war sichtlich stolz, der grosse „Gwerbler” hatte noch einmal alles gegeben – für seine geliebte Frau. Alles war gut!

Am Abend musste er dann notfallmässig ins Krankenhaus und kam nie mehr zurück.




:)



Freitag, 11. März 2016

Berti - siehst du?



Berti - siehst du?


Berti ist bescheiden aufgewachsen.
Ein abgelegenes 'Heimetli', mehr Kinder als Kühe und viel harte Arbeit, das war ihre Jugend. Die Hänge waren stotzig, Maschinen zu teuer und darum die Arbeitstage im Sommer sehr lang. Da blieb nicht viel Freizeit. Aber alles hat man gemeinsam gemacht – gearbeitet, gesungen, gebetet.
„Ich hatte eine zufriedene Kindheit, auch wenn wir arm waren. Das Nötigste war doch immer da und die Wärme dieser grossen Familie war mit nichts nicht zu ersetzen.“

Schwierig wurde es erst später.
Der Ehemann taugte nichts, er arbeitete nicht gerne. Lieber prahlte er in der 'Beiz' und vergnügte sich oft mit anderen Frauen. In dieser Zeit war auch das Geld richtig knapp. Manchmal reichte es nicht einmal für das Notwendigste.
„In dieser Zeit habe ich nachts oft geweint.“
Denn nun war Berti nicht nur arm, jetzt war sie auch noch einsam. Die Wärme fehlte ihr, nicht nur in der Stube.
Mit Flick- und Handarbeit hat sie versucht die finanziellen Löcher zu stopfen und die drei Kinder zu sättigen. „Ich habe sie so gut es ging versorgt, aber gedankt haben sie es mir nicht.“
Bis heute hat sie kaum Besuch von ihrer Familie. „Vielleicht schämen sie sich ihrer Herkunft“, mutmasst Berti und ein Schatten huscht über ihre wachen Augen. Obschon, alle drei konnten etwas lernen und hatten später Erfolg. „Keiner ist auf die schiefe Bahn geraten“, betont Berti mit erhobenem Zeigefinger. Das ist ihr wichtig und ihre Augen strahlen wieder.
Hier im Altersheim geniesst sie den Aufenthalt, wie kaum jemand.
„Das schöne, sonnige Zimmer, reichlich feines Essen und die liebevolle Pflege – so gut wie hier, ging es mir selten.“

Berti ist bescheiden geblieben.
Sie will niemandem zur Last fallen, auch finanziell nicht. Darum pflegt sie sich möglichst selber. Katzenwäsche am Waschbecken, Haarwäsche beim wöchentlichen Duschen und ganz selten ein Bad. Ein Nagelknipser genügt ihr für die Fuss- und Handpflege und Haareschneiden nur durch das Pflegepersonal. Das kostet weniger als ein Besuch bei der Coiffeuse. So ist sie es sich gewohnt und das will sie auch nicht mehr ändern. Ihre Kleidung ist einfach und Schmuck braucht diese Frau keinen. Sie strahlt von innen.

Dann, vor drei Wochen musste Berti ins Spital.
Ein einfacher, operativer Eingriff, wie es hiess. Eine Vollnarkose brauchte es trotzdem. Berti beunruhigte der  Spitalbesuch offensichtlich wenig. „Aba!“, mit einer verneinenden Kopfbewegung und einem energischen Wisch, kehrte sie ihn unter den Tisch. Alles wie üblich und schnell noch ein kleines Köfferchen gepackt.
Einige Tage später ist sie munter wieder im Heim. „Siehst du …?“, sagte sie schelmisch zur Begrüssung.

Doch kurz darauf der Bescheid:
Eine kleine Nachoperation war nötig. Nichts grosses, aber nochmals unter Vollnarkose.
Nun war es mit Bertis Gelassenheit vorbei. Sorgen türmten sich jetzt plötzlich vor ihr auf. Da nützte kein Wisch und kein gutes Zureden. Denn Berti war jetzt felsenfest davon überzeugt, dass sie eine zweite Narkose nicht überleben würde. Das musste ihr Todesurteil sein. Darauf galt es sich vorzubereiten!
Ein neues Nachthemd und frische Unterwäsche musste sofort gekauft werden. Auch das schlichte graue Kleid, das schon immer für den Todesfall im Kasten hing, musste man jetzt aufbügeln. Bei der Coiffeuse wurde ein Termin abgemacht – schneiden, waschen, legen. Dazu Fuss- und Handpflege – Maniküre und Pediküre mit Lack. Auch wollte Berti am Vortag baden und am Eintrittstag musste es eine professionelle Morgentoilette sein. Für den Ernstfall war Berti nichts zu teuer.
Von jedem einzeln hat sie sich verabschiedet und sich für die schöne Zeit im Heim herzlich bedankt.

Gestern ist Berti gut gelaunt wieder im Altersheim eingetroffen – im schlichten, grauen Kleid adrett gekleidet, aber sonst bescheiden wie immer.
„Siehst du ...?“, sagte ich und hielt ihre Hand etwas länger.




:)

Mittwoch, 8. April 2015

Ewige Liebe






Ewige Liebe

 

“Wir haben immer alles zusammen gemacht – mein Mann und ich – fast 60 Jahre lang.

Es gab für mich keinen Grund, alleine etwas zu unternehmen – mit ihm gemeinsam war es immer am Schönsten. Mit ihm zusammen zu sein, ihn in meiner Nähe zu haben, das war immer mein grösstes Glück, seit ich ihn kennengelernt habe.

Er war ein flotter junger Mann, viele wollten ihn haben…
Etwas schüchtern – aber das habe ich zu meinen Gunsten genutzt.
Ich bin auf ihn zugegangen, ganz behutsam und mit viel Geduld…

Ich habe ihm immer Zeit gelassen, sich an etwas zu gewöhnen. Ich wollte ihn nie mit etwas Neuem vor den Kopf stossen. Behutsamkeit und Rücksichtnahme, das war uns immer wichtig. Trotzdem konnten wir die meisten unserer Wünsche erfüllen – er und ich… Wir haben unsere Ziele einfach nicht zu hoch gesteckt.

Uns war es wichtig, die Dinge zusammen zu erleben…
Darum habe ich immer darauf geachtet, dass ich seine Interessen mit ihm teilen konnte. Manchmal brauchte es etwas Zeit oder Überwindung bis es auch mir Freude gemacht hat…
Aber ich habe es immer versucht – und wenn keine Vorliebe aufkommen wollte, dann habe ich es ihm gesagt. Wir fanden immer eine Lösung.
Auch bei ihm dauerte es natürlich ab und zu länger, bis er mit einem Vorschlag oder Wunsch von mir einverstanden war. Aber ich habe ihm immer Zeit gelassen, sich an meine Vorschläge zu gewöhnen. Es kam auch vor, dass mir dann das Anliegen mit der Zeit gar nicht mehr so wichtig war und dann habe ich es einfach gelassen. Geschadet hat das nie.
Es gibt soviel Schönes im Leben, da kann man doch auch einmal auf etwas verzichten, wenn der andere Mühe damit hat. Schon bald findet sich etwas Neues.

Das Zusammenleben war immer ein Geben und Nehmen,  und die Achtung vor dem Anderen – und das Reden; ja das Reden ist besonders nötig! Damit man einander versteht…  
Mir war es eben wichtig, mit jemandem zusammen zu sein, der mich versteht, auf den ich mich verlassen kann, der da ist – ganz gleich was kommt. Jemand der sich für mich interessiert, dem ich wichtig bin, der zu mir steht und der mir hilft. Dafür habe ich geheiratet…

Wir haben uns gegenseitig immer geholfen. Ich habe oft im Betrieb mitgearbeitet. Eine schwere Arbeit…
Doch so war er schneller damit fertig und wir hatten mehr freie Zeit gemeinsam.
Ich habe durch ihn viel gelernt, er war ein guter Handwerker. Miteinander weiterzukommen, gemeinsam etwas aufzubauen, die Familie, den Betrieb… Wir haben uns gut ergänzt, er und ich…
Natürlich musste er keine Hausarbeit machen, dafür habe ich schon selber gesorgt. Aber als die Kinder aus dem Haus waren, hat er immer das Geschirr abgetrocknet, während ich abwusch. Das waren schöne Momente – zweimal am Tag – so Seite an Seite.
Mit der Erziehung der Kinder gab es fast nie Meinungsverschiedenheiten. Wir waren beide eine konsequente, liebevolle Erziehung ‘von Haus aus’ gewohnt.

Wir hatten auch schwierige Zeiten, vor allem am Anfang. Aber die Liebe und der Wunsch zusammenzubleiben hat das alles ertragen. Mit etwas gutem Wille ging es immer.
Wir versuchten einfach, die Dinge nicht kompliziert werden zu lassen – frühe, einfache Lösungen zu finden. Je länger wir zusammen waren und je mehr Schwierigkeiten wir miteinander überwunden hatten, desto einfacher wurde das Zusammenleben. Unsere Liebe wuchs! Wir haben uns einfach immer respektiert und in Ruhe die Dinge besprochen.

Ich wollte nie einen anderen – nein, nie! Für was auch – er hat mir gegeben was ich brauchte und was es nicht gab, hätte ich auch von einem anderen nicht bekommen. Oder ich hätte auf etwas anderes verzichten müssen. Alles kann man einfach nicht haben. Etwas Bescheidenheit hilft bei solchen Dingen meistens.
Wir hatten oft nicht viel, aber die Liebe, das Vertrauen und die Geborgenheit waren mir stets mehr wert als Geld und andere Dinge.
Wir genügten uns…. Unsere Kinder, die Arbeit und unsere Liebe zur Natur, das füllte uns aus.
Viel sind wir gewandert, später haben wir auch mal ein ’Reisli‘ gemacht– aber immer in der Schweiz oder im nahen Ausland. Weiter fort zog es uns nie, hier gibt es genügend schöne Orte.

Dann habe ich ihn lange Zeit gepflegt. Vor vier Jahren ist er dann gegangen – das erste Mal ohne mich und gerade für immer. Das war schon schwer…
Aber man wusste ja, das es mal so sein wird. Nun bin es eben ich…
Aber er wird auf mich warten, das haben wir uns versprochen…”

[Ein betagter Mund wird von einem geheimnisvollen Lächeln liebevoll umspielt….]

©/® Copyright by Herr Oter





;)

Freitag, 13. Februar 2015

Frau Hueber





Frau Hueber



Frau Hueber zieht den weissen Unterrock über die behaarten Beine nach oben. Beim Gesäss wird es eng. Sie hatte es vorher schon von oben versucht, über den Kopf, aber da blieb sie bereits bei den Schultern stecken. Also, da muss sie nun einfach durch, für Anpassungen bleibt keine Zeit mehr. Zum Glück kann sie dank des schönen Wetters wenigstens auf die  halblange Unterhose verzichten, sonst wäre es noch enger geworden. So zerrt Frau Hueber nun kräftig am groben Leinen – geht doch, oben sitzt der Gummizug auf der Hüfte und der kunstvolle Spitzensaum reicht bis über die Knöchel. Passt!
Ermutigt greift Frau Hueber nun zur bestickten Rüschenbluse, die ebenfalls aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts stammt. Die war ja schon immer etwas eng an den Schultern und den Oberarmen. Aber sie passt bestimmt noch, denn dort hat sie nicht zugelegt. Der feste Stoff ist blütenweiss und glatt gebügelt, so wie es sich für ein ordentliches ‚Wöschwyb‘ gehört. Zwar hat sie nur einmal im Jahr einen Auftritt an der Fasnacht, aber immerhin, da will man doch eine gute Figur abgeben.

Jedoch, Frau Hueber hat in diesem Jahr Mühe in Fasnachtsstimmung zu kommen. Etwas ist in den letzten Tagen ist leicht aus dem Takt geraten, aber vielleicht liegt es auch nur am trüben Wetter der letzten Zeit. Doch nun kann sie sich keine Blösse geben. Spätestens, wenn sie das Altersheim betritt, muss sie in fasnächtlicher Hochstimmung sein. Dafür ist sie gekommen und das erwarten auch die betagten Bewohner von ihr; davon sprechen sie seit Tagen.

Während sie die lange Knopfreihe zuknöpft, überlegt sich Frau Hueber ob sie den BH noch etwas ausstopfen sollte, um den Bauchansatz zu kaschieren. Dabei muss die alte Tante nun doch etwas lächeln, denn sie ist froh, dass sie sich solche Sorgen nur einmal im Jahr machen muss. Jetzt steigt sie in den schwarzen Rock. Kein Problem, der sitzt perfekt. Er ist etwas weiter geschnitten und ein Stück kürzer, damit der schön bestickte Saum des engen Unterrockes sichtbar bleibt.

Nun legt sich Frau Hueber den gehäkelten, schwarze Umhang über die Schultern. Frau Ambauen hat auch manchmal ein ähnliches Tuch übergezogen, wenn ihr ein wenig kalt war. „Selber gestrickt“, erwähnte sie dann oft und hat sich gefreut, wenn man den Umhang lobte. Nun ist sie tot. Gestern Nachmittag verstorben. Frau Hueber überzieht bei dem Gedanken eine leichte Gänsehaut. Viele Nachmittage hatten sie zusammen mit den anderen am grossen Tisch in der Cafeteria des Altersheimes verbracht. Kaffee trinken, Dessert essen, reden, schweigen, lachen, ja es ist oft eine lustige Runde. Doch Frau Ambauen war nicht leicht zum Lachen zu bringen. Sie war eine ernste Frau. Sie hat viele Schicksalsschläge hinnehmen müssen - ein Sohn behindert; der Mann – na ja, Gott hab in selig – und ihre Tochter ist dann vor zwei Jahren auch noch viel zu früh gestorben. „Dass das Kind vor einem stirbt, wenn man doch selber alt und angeschlagen ist, das ist ungerecht“, hat sie einmal traurig zu mir gesagt. Die Tochter hatte sie regelmässig besucht, darum hatte ihr Tod Frau Ambauen vielleicht auch besonders schwer mitgenommen; darüber ist sie nie ganz weg gekommen. Zur Beerdigung wurde sie von der eigenen Familie, die im gleichen Ort wohnt, nicht einmal persönlich abgeholt – ein Begleitungs-Auftrag wurde ans Heim erteilt. Die selten Besuche der danach noch verbleibenden Familienmitglieder, die immerhin einen stattlichen Hof erben konnten, taten dann das übrige. Sie wollte nicht mehr. Im Dezember sagte sie mir, dass sie gerne sterben möchte, weil das alles sowieso ‘keinen Sinn mehr machen würde‘.
Nun liegt sie oben in ihrem Zimmer aufgebahrt, so wie es üblich ist. Und morgen Abend wird das Sterbegebet für Frau Ambauen in der Heimkapelle abgehalten. Ich werde dabei sein, ganz normal gekleidet.

Nun gilt es aber zuerst, trotzdem gute Stimmung an der Heim-Fasnacht in der Cafeteria zu verbreiten. Ist das pietätlos? Nein, das ist das Leben! Der Tod gehört dazu, genau wie eine Geburt. Damit hat Frau Hueber keine Mühe und als ‚Figur‘ sowieso nicht. Denn früher wurden die ‚Wöschwyber’ oft gerufen, um die Toten zu waschen und anzukleiden. Das gehörte vielerorts zu ihren Aufgaben.

Frau Hueber atmet tief durch, zieht sich das schwarzweisse Kopftuch über ihre grauen Haare und knotet es vorne zusammen. Danach zieht sie die von Mutters Hand grobgestrickten Socken an und steckt die Füsse in die klobigen Schuhe. Probelauf – an die stöckelnden Schritte im engen Unterrock, muss sie sich erst wieder gewöhnen. Kein Wunder, dass Frauen manchmal zu spät zu einem Treffen kommen, bei diesen kleinen Schritten, denkt Frau Hueber verschmitzt. Entschlossen greift sie nun zur geflochtenen Handtasche. Sie stammt noch von ihrer Grossmutter. Sicher wird das elegante Täschchen von den Bewohnerinnen auch heute wieder besonders bewundert und gelobt.
Vorsichtig betätigt Frau Hueber den Schliessmechanismus und zieht den Zipfel eines karierten Taschentuches ein wenig hinaus. So fertig.
Ein Blick in den Spiegel – alles sitzt und passt auch einigermassen. Jetzt bitte lächeln Frau Hueber – Mundwinkel nach oben!
In Kürze wird ein altes, gebeugtes Waschweib am schwarzen Gehstock ins Altersheim humpeln. Am linken Arm ein schwarzes Täschchen. Eine vollendete Komposition aus schwarz und weiss. Passt doch! Lächeln Frau Hueber, lächeln! Fasnachtsstimmung wie immer – schauspielern ist sich Frau Hueber ja gewohnt.

©/® Copyright by Herr Oter 






;)

Mittwoch, 4. Februar 2015

Röslis letzter Auftritt





Röslis letzter Auftritt



«Silberfäden zart durchziehen,
meiner Mutter weiches Haar.
Silberfäden heute zieren,
ihr das Haupt so wunderbar...»


Mit zittriger Stimme singt Rösli das populäre Volkslied, das Vico Torriani 1949 bei uns bekannt gemacht hat. Damals war sie gerade mal zarte 18 Jahre alt – und heute, 66 Jahre später, steht die 84-Jährige endlich dort, wo sie schon immer hinwollte, ins gleissende Scheinwerferlicht einer Theaterbühne.
Auch bei dieser letzten Zusatzvorstellung in einer Schweizer Kleinstadt bebt ihr schwacher Körper vor Nervosität und noch immer steht sie etwas steif auf den Brettern, die die Welt bedeuten; den starren Blick versunken leicht nach oben gerichtet. Spontaner Applaus nach dem letzten Ton wird ihr gewiss sein, auch wenn die brüchige Stimme manchmal etwas versagt – doch der Mann am Klavier singt mit und trägt mit sie seiner tiefen Stimme.

Das Schauspiel hat Rösli schon immer fasziniert. In jungen Jahren war sie deshalb auch Mitglied in einem Theaterverein. Aber auf die Bühne hat sie sich dann doch nicht zugetraut. So blieb sie die unscheinbare Souffleuse, im dunklen Flüsterkasten unterhalb der Rampe im Bühnenboden.
Dort hat sie auch ihren Hans kennengelernt. Von unten hat sie den kräftigen Schmied heimlich angehimmelt, als er in einem Schwank auf der Bühne stand. Ernst wurde es dann bei der nächsten Produktion, als Hans die Rolle des zweiten Souffleur übernahm. „Die Rolle seines Lebens“, wie er später gerne lachend bemerkte.

Hans ist inzwischen schon einige Jahre von der Lebensbühne abgetreten und Rösli noch einigermassen rüstig im Altersheim. Dort wurde sie dann auch angefragt, ob sie in einem Theaterstück mitspielen würde. In kleinen Szenen wolle man oft verdrängte Themen rund um den letzten Lebensabschnitt im Heim thematisieren. Man beabsichtige dabei, die vielfältigen Herausforderungen aller Beteiligten: der Bewohner, der Angehörigen, der Pflegenden und Betreuenden, aber auch der Allgemeinheit sichtbar zu machen. Themen wie Heimeintritt, Einsamkeit, Langeweile, Hilflosigkeit, Demenz, Krankheit aber auch Liebe im Alter sollen angesprochen werden und den Zuschauern Impulse und Denkanstösse vermittelt werden.

So etwa die lebhafte Bewohnerin, die jetzt plötzlich zur Untätigkeit verurteilt wird, obschon es ihr langweilig ist. Die Sichtweise ihres älteren Bruders, der schon immer alles verdrängt hat und sich keine Gedanken über einen Heimeintritt machen will. Die Verwandten, die nicht begreifen können, dass man rüstig und freiwillig in ein Heim geht, zu diesen Alten, die dementsprechend reden, riechen und sowieso nur immer ‚rumhocken‘. Oder die Konflikte der Familie, die das Grosi zwar bewundert, aber trotzdem eher unwillig, höchstens einmal im Monat besucht, damit man nicht schlecht von ihnen denkt – im Heim, beim Personal. Man führt auch vor, wie verletzend das Getuschel über die Mitbewohnerin sein kann, die sich schon bald wieder in einen neuen Bewohner verliebt, weil die Einsamkeit und die Liebe nicht vor einer Heimtüre Halt machen.

Dagegen die Nöte einer Pflegekraft, deren Bewohner die Hände beim Waschen im Intimbereich einfach nicht unter Kontrolle halten kann und ihr ständig ‚Schätzeli‘ sagt. Dazu die Sicht der Teamleitung, die trotzdem Pflichterfüllung und Professionalität von ihr fordert, um den Betrieb rentabel und aufrecht zu erhalten. Oder die Belastung der jungen Auszubildenden, die die vielen Todesfälle noch schlecht einordnen kann, sich aber wegen der Schweigepflicht mit ihren sich wundernden Freundinnen nicht richtig auszusprechen wagt. Aber auch die Heimleitung und die Gemeindebehörden kommen zu Wort, die durch stetig anwachsende Pflegekosten, zeitraubende Vorschriften und neue Pflegekonzepte in eine immer schwierigere Situation geraten

So haben alle Betroffenen ihre Auftritte in dem Stück, das die beteiligten Laienschauspieler in monatelangem Austausch und intensiven Gesprächen zusammen mit einem Regisseur entwickelt haben. Sie kennen sich in den verschiedenen Problematiken gut aus, weil sie alle in irgendeiner Weise davon betroffen sind, sei es bei der Arbeit, in einer Funktion oder in der eigenen Familie. Und doch, jeder spielt in den Mehrfachrollen nie sich selbst, jeder schlüpft allabendlich in die Befindlichkeiten von anderen, damit das Stück nie zu persönlich wird.

Ausser Rösli! Sie spielt nur sich selbst. Sie ist die Darstellerin ihres eigenen Lebens – denn Rösli’s „Figur“ wurde aus ihren persönlichen Lebensgeschichten zusammengestellt. So brauchte sie kaum Text auswendig zu lernen, denn sie darf einfach erzählen. Vom Geldmangel in ihrer Jugend das verhindert hat, dass sie ein Musikinstrument lernen konnte. Das ist zwar lange her, aber vergessen hat sie es trotzdem nie. Rösli erzählt bewegt und hat dabei die Freiheit, sich nicht wörtlich an einen Text halten zu müssen. Das macht die Einsätze der beiden Jungschauspieler nicht einfacher. Aber das bezaubernde Enkel-Pärchen auf der Bühne staunt auch noch bei der letzten Aufführung, man fragt sich, ob es wirklich jeden Abend bloss gespielt war.
Manchmal liesst Rösli auch Texte aus einem Tagebuch, das dem ihren durchaus entsprechen könnte. Gedanken über die Befindlichkeiten einer agilen Rentnerin, die frühzeitig den Schritt ins Heim gewagt hat, nachdem ihr Mann gestorben ist, weil ein Umzug sowieso von Nöten war. Die Sicht der Bewohnerin, die im Altersheim zur Untätigkeit verdammt ist und dabei ihren Mann und seine Zärtlichkeiten vermisst. Dass sie sich, wie im Stück, mit bald neunzig in einen Mitbewohner verliebt, das könnte schon noch sein, meint Rösli keck mit einem Augenzwinkern. Und wenn dann auch über sie getuschelt und getratscht würde, würde sie auch das in Kauf nehmen und einfach nicht hinhören.
Genau so wie heute, wenn im Heim von den neidischen Mitbewohnerinnen hinter vorgehaltener Hand boshaften Bemerkungen über sie fallen. Denn manche mögen ihr die Abwechslung im Heimalltag und den Erfolg auf der Bühne nicht gönnen, vergessen dabei aber, dass man dafür etwas mehr tun muss, als im Sofa auf den Tod zu warten.

Doch das alles kümmert Rösli wenig, sie geniesst die Auftritte im Scheinwerferlicht und alles, was damit verbunden ist. Sie hat die sich bietende Chance gepackt und sich einen lebenslangen Traum endlich erfüllt – zu einem Zeitpunkt, als sie ihn eigentlich bereits abgeschrieben hatte.


«Jahr um Jahr so schnell entfliehen, 
voller Leid und voller Glück.
  Doch ihr Herz ist jung geblieben, 
immer zart und lieb ihr Blick.»


Und wie bei jeder Aufführung gibt es am Schluss der zittrigen Silberfäden mächtigen Szenenapplaus für Rösli, auch an diesem Abend, ihrer letzten Vorstellung auf der Bühne.
Ab morgen wird ihr etwas fehlen!


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Silberfäden:
“Silver Threads Among the Gold” wurde vom damals berühmtesten Komponisten Amerikas [er schrieb mehr als 1.000 Songs], Hart Pease (HP) Danks, bereits 1872 geschrieben. Der Text basiert auf einem Gedicht von Eben Eugen Rexford, dem er 3 $ für die Rechte geboten haben soll. Das Lied verkaufte sich unmittelbar nach seiner Veröffentlichung bereits 300.000 mal alleine in Amerika und der weltweite Verkauf überstieg drei Millionen noch vor der Jahrhundertwende. 
Trotzdem verstarb HP Danks, nachdem er die Rechte später verkauft hatte, 1903, im Alter von 69 Jahren, völlig mittellos in einer Pension in Philadelphia. Seine letzten geschriebenen Worte sollen gelautet haben: «Es ist schwer, allein zu sterben»

Vico Torriani:
Der singende St. Moritzer Koch  Vico Torriani (1920-1988) hatte mit den Silberfäden 1949 in der Schweiz seinen ersten grossen Hit. Begleitet wurde er dabei von Cédric Dumont und dem Unterhaltungsorchester von Radio Beromünster. Ab 1951 wurde das Lied dann durch Vico Torrianis Auftritte und Fernseh-Shows im ganzen deutschsprachigen Raum bekannt.


:)

Sonntag, 16. November 2014

Ich bin halt nicht von hier






Ich bin halt nicht von hier



„Mir geht es richtig schlecht“, lautet die Antwort der weisshaarigen Frau auf meine Frage nach ihrem Befinden. Sie sitzt alleine am ersten Tisch im Kaffee des Altersheims.
„Ach, was ist denn heute nicht gut, Frau Bürgisser“, frage ich etwas scherzhaft.
Dabei lächle ich sie an, nichts ahnend.

„Ich mag gar nicht darüber reden“, so die mürrische Antwort nach einer kurzen Pause.
Ihre sonst leuchtenden Augen scheinen mir heute stumpf und freudlos und das doch meist freundliche Gesicht voller Runzeln, zerfurchter den je. Schnell senkt sich ihr Blick wieder auf den Tisch mit der fast leeren Kaffeetasse und dem verschmierten Kuchenteller.
Dabei sackt die adrett gekleidete Frau sichtbar etwas zusammen und verharrt geknickt auf ihrem Stuhl.
So kenne ich Anna Bürgisser gar nicht. Gerade sie, die doch sonst immer ziemlich aufgestellt und meistens fröhlich ist.
Aber heute sieht sie gar nicht zufrieden aus, ich merke es erst jetzt.
Darum setzte ich mich ihr gegenüber auf die andere Tischseite und warte erst mal ab – wir haben ja Zeit.

Inzwischen bringt man mir meinen Kaffee; ich zahle in sogleich und kippe den Rahm in die Tasse. Den Zuckerbeutel lege ich vor mir auf den Tisch. Chantal hat wieder einmal vergessen, dass ich keinen brauche. Eigentlich bräuchte ich auch nie einen Kaffeelöffel – aber was solls? Nur das beigelegte, luftdichtverschlossenen Gebäck – davon hätte ich auch zwei genommen.

„War etwa der Schokoladenkuchen nicht gut?“, versuche ich etwas später das Gespräch mit einem lockeren Spruch wieder aufzunehmen. Unschlüssig wischt die zierliche Frau einen Kuchenkrümel von der nackten Tischplatte.
„Nein, nein, der Kuchen war schon recht.“ Ich bekomme genau die Antwort, die ich erwartet habe. Denn eine Sachertorte zum Nachtisch, das ist doch bei den meisten Heimbewohner beliebt.

„Es ist etwas anderes“, fügt die mehr als Neunzigjährige nach einer kurzen Pause an und schiebt dabei den leeren Kuchenteller gegen die Tischmitte.
Ich warte – lasse Frau Bürgisser ein wenig Zeit, denn ich merke, dass sie mir den Grund schon noch mitteilen möchte.

„Etwas ist immer“, sage ich nach einiger Zeit, nur damit wieder einmal etwas gesagt ist.
Aber sie schweigt weiter – scheint über eine Sache nachzugrübeln und schüttelt dabei leicht den Kopf.
Es muss sich um etwas Schwerwiegenderes handeln, das sie belastet. Denn die sonst recht fröhliche und positiv denkende Bewohnerin ist doch im allgemeinen nicht gerade aufs Maul gefallen.
Ach, nun rühre ich doch mit dem Löffel in meiner Kaffeetasse – für was denn eigentlich, so ohne Zucker?

„Hat Sie jemand geärgert, Frau Bürgisser?“ frage ich ganz vorsichtig über den Tisch, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen.
Frau Bürgisser streicht mit beiden Händen ein unsichtbares Tischtuch glatt und sagt ganz leise, eher zu sich selbst: „Das habe ich wirklich nicht verdient.....“

Ich warte gespannt, jetzt darf ich sie nicht mehr unterbrechen, jetzt muss ich einfach nur noch warten.
Hier in der Cafeteria des Alterszentrums lerne ich Geduld zu üben, einfach abzuwarten .......
Denn hier geht alles etwas langsamer, alles will gut überlegt sein.
Man hat hier nichts zu pressieren, denn es wartet niemand und nichts – höchstens irgendwann das Abendessen.

„Was glaubt denn die eigentlich ...“
Das ist von ihr wohl eher eine Feststellung, als eine Frage. Trotzig greifen dürre, schmale Hände nach der Papierserviette auf dem Dessertteller.

Anna Bürgisser wohnt schon fast zwei Jahre hier im Altersheim, aber sie ist eigentlich eine Auswärtige. Keine aus dem Städtchen – hat nie da gelebt, sondern drei Dörfer weiter. Aber dort hatte es keinen Platz im Heim, als sie wegen ihren Hüften aus dem Spital nicht mehr nach Hause gehen konnte.

„Sagt die doch, ich sei eine Lügnerin!“
Frau Brügger dreht und windet ihre Serviette zwischen den gichtigen Fingern und richtet sich dabei wieder etwas auf.
„Dabei lügt sie! - Die dumme Gans!“
Die letzten Worte presst sie förmlich durch ihre Zahnlücken, so, dass man sie kaum verstanden hat.

„Wer sagt, dass Sie eine Lügnerin sind?“, frage ich etwas überrascht.
„Nun, Frau Ächerli natürlich, diese dumme Kuh!“, zischt Frau Bürgisser wie eine Schlange. Sie sitzt jetzt wieder ganz gerade aufgerichtet auf ihrem Stuhl und stranguliert weiterhin ihre Serviette.

„Warum?“, frage ich knapp.
„Ja, weisst du ….., die Frau Ächerli sitzt doch beim Nachtessen an meinem Tisch. Gleich auf dem Stuhl neben mir.
Sie kommt immer etwas zu spät …., ist immer etwas in Eile, als ob sie noch so stark beschäftigt wäre. Die will sich doch nur wichtig machen. Und nobel tut die …..! War halt eine Geschäftsfrau, eine Reiche – sagt man. Tja, als ob das hier noch eine Rolle spielen würde.
Anna Bürgisser macht eine kurze Pause und holt Luft.

„Und dann klemmt die mir beim Abhocken (Absitzen) doch tatsächlich meine Finger zwischen den beiden Stuhllehnen ein!“
Frau Bürgisser streckt mir zum Beweis die Finger der rechten Hand entgegen. Ich sehe zwar nichts ausser Haut und Knochen, aber ich kann mir gut vorstellen, dass das schmerzhaft war, so zwischen zwei Stuhllehnen – eingeklemmt!

„Nein!“ entfährt es mir entrüstet, „und dann?“
„Ha, weisst du, wie das schmerzt!“
Ich nicke betroffen. Die alte Frau ist jetzt ganz aus dem Häuschen und das Erzählen geht nun wie am Schnürchen.
„Dann habe ich mich eben ein wenig beschwert – habe gesagt, sie solle doch etwas aufpassen.... und, schon stand eine Pflegerin neben uns und wollte wissen, was den da los sei.“
Ich nicke gespannt: „Und dann?“
„Ja – ich habe ihr gesagt, was sich zugetragen hat – wie es war. Aber diese Frau Ächerli hat immer behautet, dass es gar nicht wahr sei und, dass ich lügen würde. Ich wäre eine Lügnerin! – ja, das durfte diese Person vor meinen Augen sagen!“

Anna Bürgisser ist jetzt voll in Fahrt. An den Nebentischen hat man mit dem Kartenspielen aufgehört. Alles lauscht gespannt.

„Nein, das hat sie gesagt?“
„Ja, vor allen am Tisch – der ganze Speisesaal hat mitgehört!“
Die Serviette in ihren Händen ist nur noch einen Haufen Fetzten.

„Aber Ihr habt Euch doch gewehrt, oder?“
„Ha, ich sagte, dass ich nicht mehr neben dieser frechen Person sitzen wolle.“
„Und ….?“
Anna Bürgisser knickt sichtlich wieder ein und sagt leise:
„Ich musste den Tisch wechseln! Sofort und vor allen. Alle haben dabei zugeschaut und getuschelt.“

„Oha, das tut mir aber leid, Frau Bürgisser.“
Ich ergreife die abgearbeiteten, zittrigen Hände mit der zerfetzten Serviette und streichle leicht über.
Der dunkle Schatten legt sich wieder über das Gesicht von Frau Bürgisser, die Falten werden wieder tiefer, die Augen wieder trüber. Gerade sehe ich noch einen wässerigen Schimmer, bevor sich ihr Blick wieder auf die Tischplatte senkt.

Von einer hauchdünnen Stimme ist zu vernehmen:
„Aber eben, ich bin halt nicht von hier......“



Autor: © isinor (Image-ID: 618602) / pixelio.de


Übrigens,
ich habe gerade heute eine weitere, schöne "Altersheim-Geschichte" bei meiner Blogger-Kollegin: Dekoratz  (klick) gelesen. Ein Klick lohnt sich!


.)

Freitag, 1. Januar 2010

Herr Stössel





 „Gueta Morga und es guets Neus.“
Herr Stössel schlurft dem Altersheim entlang.
„Ja, ebenfalls, und .....“
Aus einem fahlen, etwas aufgedunsenen Gesicht schaut mich ein listiges Äuglein an, das andere lässt sich nicht mehr öffnen.
– „eben, die Gesundheit ist halt wichtig.“
Seine Handschuhe klammern sich an den Rollator und die Ohren sind mit einer Zipfelkappe geschützt
„So ist es - je älter man wird, desto bewusster wird einem wie wichtig sie ist.“
„Ich habe nur einen Wunsch fürs neue Jahr gefasst - dass ich einfach jeden Tag selber aufstehen und ohne fremde Hilfe meine kleinen Runden ums Altersheim laufen kann. Das hat etwas mit Freiheit zu tun."
„Wird man bescheidener im Alter? Hat man weniger Wünsche oder werden sie kleiner?“
„Nein, im Gegenteil - denn Gesundheit ist das grösste Geschenk.“

Herr Stössel setzt wieder behutsam einen Fuss vor den anderen und meint noch:
„Ich muss weiter, meine Frau kommt heute zum Mittagessen und darauf freue ich mich. Ja, ja ein gutes Essen ist halt auch wichtig - und eine liebe Frau - und ab und zu einen Besuch - und eine gute Pflege - und ........."
Hat er mich nun verschmitzt angeblinzelt, oder blendet ihn die Sonne....


:-))