Röslis letzter Auftritt
«Silberfäden zart durchziehen,
meiner Mutter weiches Haar.
Silberfäden heute zieren,
ihr das Haupt so wunderbar...»
meiner Mutter weiches Haar.
Silberfäden heute zieren,
ihr das Haupt so wunderbar...»
Mit zittriger Stimme singt Rösli das populäre Volkslied, das Vico Torriani 1949 bei uns bekannt gemacht hat. Damals war sie gerade mal zarte 18 Jahre alt – und heute, 66 Jahre später, steht die 84-Jährige endlich dort, wo sie schon immer hinwollte, ins gleissende Scheinwerferlicht einer Theaterbühne.
Auch bei dieser letzten Zusatzvorstellung in einer Schweizer Kleinstadt bebt ihr schwacher Körper vor Nervosität und noch immer steht sie etwas steif auf den Brettern, die die Welt bedeuten; den starren Blick versunken leicht nach oben gerichtet. Spontaner Applaus nach dem letzten Ton wird ihr gewiss sein, auch wenn die brüchige Stimme manchmal etwas versagt – doch der Mann am Klavier singt mit und trägt mit sie seiner tiefen Stimme.
Das Schauspiel hat Rösli schon immer fasziniert. In jungen Jahren war sie deshalb auch Mitglied in einem Theaterverein. Aber auf die Bühne hat sie sich dann doch nicht zugetraut. So blieb sie die unscheinbare Souffleuse, im dunklen Flüsterkasten unterhalb der Rampe im Bühnenboden.
Dort hat sie auch ihren Hans kennengelernt. Von unten hat sie den kräftigen Schmied heimlich angehimmelt, als er in einem Schwank auf der Bühne stand. Ernst wurde es dann bei der nächsten Produktion, als Hans die Rolle des zweiten Souffleur übernahm. „Die Rolle seines Lebens“, wie er später gerne lachend bemerkte.
Hans ist inzwischen schon einige Jahre von der Lebensbühne abgetreten und Rösli noch einigermassen rüstig im Altersheim. Dort wurde sie dann auch angefragt, ob sie in einem Theaterstück mitspielen würde. In kleinen Szenen wolle man oft verdrängte Themen rund um den letzten Lebensabschnitt im Heim thematisieren. Man beabsichtige dabei, die vielfältigen Herausforderungen aller Beteiligten: der Bewohner, der Angehörigen, der Pflegenden und Betreuenden, aber auch der Allgemeinheit sichtbar zu machen. Themen wie Heimeintritt, Einsamkeit, Langeweile, Hilflosigkeit, Demenz, Krankheit aber auch Liebe im Alter sollen angesprochen werden und den Zuschauern Impulse und Denkanstösse vermittelt werden.
So etwa die lebhafte Bewohnerin, die jetzt plötzlich zur Untätigkeit verurteilt wird, obschon es ihr langweilig ist. Die Sichtweise ihres älteren Bruders, der schon immer alles verdrängt hat und sich keine Gedanken über einen Heimeintritt machen will. Die Verwandten, die nicht begreifen können, dass man rüstig und freiwillig in ein Heim geht, zu diesen Alten, die dementsprechend reden, riechen und sowieso nur immer ‚rumhocken‘. Oder die Konflikte der Familie, die das Grosi zwar bewundert, aber trotzdem eher unwillig, höchstens einmal im Monat besucht, damit man nicht schlecht von ihnen denkt – im Heim, beim Personal. Man führt auch vor, wie verletzend das Getuschel über die Mitbewohnerin sein kann, die sich schon bald wieder in einen neuen Bewohner verliebt, weil die Einsamkeit und die Liebe nicht vor einer Heimtüre Halt machen.
Dagegen die Nöte einer Pflegekraft, deren Bewohner die Hände beim Waschen im Intimbereich einfach nicht unter Kontrolle halten kann und ihr ständig ‚Schätzeli‘ sagt. Dazu die Sicht der Teamleitung, die trotzdem Pflichterfüllung und Professionalität von ihr fordert, um den Betrieb rentabel und aufrecht zu erhalten. Oder die Belastung der jungen Auszubildenden, die die vielen Todesfälle noch schlecht einordnen kann, sich aber wegen der Schweigepflicht mit ihren sich wundernden Freundinnen nicht richtig auszusprechen wagt. Aber auch die Heimleitung und die Gemeindebehörden kommen zu Wort, die durch stetig anwachsende Pflegekosten, zeitraubende Vorschriften und neue Pflegekonzepte in eine immer schwierigere Situation geraten
So haben alle Betroffenen ihre Auftritte in dem Stück, das die beteiligten Laienschauspieler in monatelangem Austausch und intensiven Gesprächen zusammen mit einem Regisseur entwickelt haben. Sie kennen sich in den verschiedenen Problematiken gut aus, weil sie alle in irgendeiner Weise davon betroffen sind, sei es bei der Arbeit, in einer Funktion oder in der eigenen Familie. Und doch, jeder spielt in den Mehrfachrollen nie sich selbst, jeder schlüpft allabendlich in die Befindlichkeiten von anderen, damit das Stück nie zu persönlich wird.
Ausser Rösli! Sie spielt nur sich selbst. Sie ist die Darstellerin ihres eigenen Lebens – denn Rösli’s „Figur“ wurde aus ihren persönlichen Lebensgeschichten zusammengestellt. So brauchte sie kaum Text auswendig zu lernen, denn sie darf einfach erzählen. Vom Geldmangel in ihrer Jugend das verhindert hat, dass sie ein Musikinstrument lernen konnte. Das ist zwar lange her, aber vergessen hat sie es trotzdem nie. Rösli erzählt bewegt und hat dabei die Freiheit, sich nicht wörtlich an einen Text halten zu müssen. Das macht die Einsätze der beiden Jungschauspieler nicht einfacher. Aber das bezaubernde Enkel-Pärchen auf der Bühne staunt auch noch bei der letzten Aufführung, man fragt sich, ob es wirklich jeden Abend bloss gespielt war.
Manchmal liesst Rösli auch Texte aus einem Tagebuch, das dem ihren durchaus entsprechen könnte. Gedanken über die Befindlichkeiten einer agilen Rentnerin, die frühzeitig den Schritt ins Heim gewagt hat, nachdem ihr Mann gestorben ist, weil ein Umzug sowieso von Nöten war. Die Sicht der Bewohnerin, die im Altersheim zur Untätigkeit verdammt ist und dabei ihren Mann und seine Zärtlichkeiten vermisst. Dass sie sich, wie im Stück, mit bald neunzig in einen Mitbewohner verliebt, das könnte schon noch sein, meint Rösli keck mit einem Augenzwinkern. Und wenn dann auch über sie getuschelt und getratscht würde, würde sie auch das in Kauf nehmen und einfach nicht hinhören.
Genau so wie heute, wenn im Heim von den neidischen Mitbewohnerinnen hinter vorgehaltener Hand boshaften Bemerkungen über sie fallen. Denn manche mögen ihr die Abwechslung im Heimalltag und den Erfolg auf der Bühne nicht gönnen, vergessen dabei aber, dass man dafür etwas mehr tun muss, als im Sofa auf den Tod zu warten.
Doch das alles kümmert Rösli wenig, sie geniesst die Auftritte im Scheinwerferlicht und alles, was damit verbunden ist. Sie hat die sich bietende Chance gepackt und sich einen lebenslangen Traum endlich erfüllt – zu einem Zeitpunkt, als sie ihn eigentlich bereits abgeschrieben hatte.
«Jahr um Jahr so schnell entfliehen,
voller Leid und voller Glück.
Doch ihr Herz ist jung geblieben,
immer zart und lieb ihr Blick.»
voller Leid und voller Glück.
Doch ihr Herz ist jung geblieben,
immer zart und lieb ihr Blick.»
Und wie bei jeder Aufführung gibt es am Schluss der zittrigen Silberfäden mächtigen Szenenapplaus für Rösli, auch an diesem Abend, ihrer letzten Vorstellung auf der Bühne.
Ab morgen wird ihr etwas fehlen!
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Silberfäden:
“Silver Threads Among the Gold” wurde vom damals berühmtesten Komponisten Amerikas [er schrieb mehr als 1.000 Songs], Hart Pease (HP) Danks, bereits 1872 geschrieben. Der Text basiert auf einem Gedicht von Eben Eugen Rexford, dem er 3 $ für die Rechte geboten haben soll. Das Lied verkaufte sich unmittelbar nach seiner Veröffentlichung bereits 300.000 mal alleine in Amerika und der weltweite Verkauf überstieg drei Millionen noch vor der Jahrhundertwende.
Trotzdem verstarb HP Danks, nachdem er die Rechte später verkauft hatte, 1903, im Alter von 69 Jahren, völlig mittellos in einer Pension in Philadelphia. Seine letzten geschriebenen Worte sollen gelautet haben: «Es ist schwer, allein zu sterben»
Vico Torriani:
Der singende St. Moritzer Koch Vico Torriani (1920-1988) hatte mit den Silberfäden 1949 in der Schweiz seinen ersten grossen Hit. Begleitet wurde er dabei von Cédric Dumont und dem Unterhaltungsorchester von Radio Beromünster. Ab 1951 wurde das Lied dann durch Vico Torrianis Auftritte und Fernseh-Shows im ganzen deutschsprachigen Raum bekannt.
:)
2 Kommentare :
Wie immer: zmitzt usem Läba! Super schön!
T.O.&O.
Herzlicha Dank, Ri
Ja, es ist eine (fast) wahre Geschichte aus dem Heim. Schön, dass sie Dir gefällt.
Liebs Grüassli und schöns Wucheend
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