.

Montag, 17. Dezember 2007

Das Mädchen am Fluss



Das Mädchen am Fluss



Das glasklare Wasser umschmeichelt ihre Füsse wie ein silbriger Seidenschal. Sie hatte die Hosenbeine hochgekrempelt und weisse Waden waren dabei zum Vorschein gekommen. Durch die eisige Kälte des Wassers sind ihre winzig kleinen Füsse inzwischen rot geworden und mit viel Fantasie sehen sie zwei grossen Flusskrebsen ähnlich. Aber Anna spürt die Kälte nicht, so sehr ist sie in Gedanken versunken. Sie weilt, weit weg von hier, am anderen Ende der Welt, im Land ihrer Sehnsucht.

Mit den Händen fährt sie durch die Kiesel am Rand des Bächchens und lässt die farbigen Steinchen durch die Finger gleiten. Diese Vielfalt fasziniert sie. Jeder eine andere Farbe, eine neue Form, ungleiche Grössen. Und trotz ihrer Unterschiedlichkeit haben sie etwas gemeinsam. Sie sind gleichwertiger Teil dieser Uferböschung und können in diesem Mosaik auch sein was sie sind, einfach nur Steine.
Wieso kann es bei ihr nicht auch so sein? Warum wird sie hier nicht so akzeptiert wie sie ist? Fremd, andersartig und doch ein wertvoller, brillanter Kristall in einem bunten Bild.
Manchmal hebt Anna die gefüllten Hände aus dem Wasser um die glitzernden Steine in der Sonne besser betrachten zu können - aber auch, damit sich ihre Hände in der bereits kräftigen Frühlingssonne wieder etwas erwärmen. Sie kann sich kaum satt sehen an den leuchtenden Farben einzelner Kiesel und sie fragt sich, wo sie ihren Ursprung haben. Wenn sie den Kopf hebt und die hohen, fast schwarzen Berge ansieht, dann muss sie annehmen, dass diese kleinen farbigen Klinker in ihrer Hand von weiter her angeschwemmt wurden und sie wie Anna eine weite Reise hinter sich haben. Vermutlich haben sie auch besondere Namen - schöne Namen - nicht ganz leicht auszusprechen und trotzdem hat man sie ihnen gelassen.
Aber Anna gefällt inzwischen auch Anna und sie hat sich unterdessen daran gewöhnt.
Selbst das gewöhnliche Sedimentgestein, diese kleinen, graue Felsstückchen, durch den Transport jetzt schön gerundet, werden beim näheren Betrachten zu kleinen Kunstwerken. Durchzogen von feinen Linien und durchsetzt von weissen oder schwarzen Flächen mit Schattierungen in verschiedenem Grau. Das abtropfende Wasser lässt sie noch prächtiger erscheinen und Anna kann sich kaum vorstellen, dass sie einmal Teil dieser mächtigen Berge waren, die ihr so oft grosse Angst machen, weil sie für Anna etwas Fremdes sind.
Anna gehörte früher, als sie noch einen anderen Namen hatte, auch zu etwas Grossem. Sie war Teil einer vielköpfigen Familie, Mitglied eines ganzen Dorfes und Ureinwohnerin eines schönen Landes. In dieser Gemeinschaft war sie Daheim, dort hatte sie sich geborgen gefühlt.
Doch dann wurden sie geteilt, auseinander gerissen, in verschiedene Welten geschossen und Anna hatte dafür gekämpft, dass sie in der Welt der Lebenden bleiben konnte. Sie hatte sich, klein wie sie war, unbemerkt unter ihren Vater geschoben, in seinem Blut gelegen, umringt von leichenblassen Geschwistern, verwesenden Verwandten. Sie hörte die Schreie der Mutter, das Wimmern der Frauen, die Schüsse der Soldaten und spürte den Druck eines weiteren leblosen Körpers auf ihrem. Sie brauchte nichts zu sehen, um zu wissen, dass es nie mehr so sein konnte wie es war.
Anna gefällt die Buntheit der Steine, denn nur zusammen ergeben sie dieses schöne Bild. Keinen will sie wegnehmen und so taucht sie die Hände wieder ins Wasser und nachdem sich die immer grösser werdenden Ringe allmählich verloren haben und die ruhige Oberfläche zum Fenster und Spiegel zugleich wird, sieht sie im Wasser, ein Gesicht sich widerspiegeln. Es ist nicht das anmutige Gesicht, das man von einem Mädchen mit Mandelaugen erwartet. Es ist gezeichnet vom Feuerschein eines brennenden Dorfes, nachgebildet durch unzählige Operationen. Das lange, schwarze Haar, das früher die Wasseroberfläche berührt hätte, trägt sie nun kurz und es muss auch ab und zu abgenommen werden.
Das Gesicht gehört zu Anna und doch ist es nicht das ihre. Ihr Gesicht hat sie verloren, für immer. Dieses hier, das sie nun trägt, ist modelliert wie eine Maske, die Haare ersetzt durch eine Perücke und am Oberkörper viel fremde Haut und das Ganze versehen mit einem fremden Namen. Das ist Anna.
Ihr Sein trügt, ihr Schein führt andere hinters Licht, damit ihr wahres Ich im Dunkeln bleibt. Nie zeigt sie ihr wirkliches Gesicht, wie sollte sie auch. Sie lügt anderen etwas vor und nur allzu oft - auch sich selber. Sie ist so, wie man es von ihr erwartet - glücklich, dass sie vermutlich als Einzige überlebt hat. Dankbar, dass sie gerettet wurde und froh, dass sie hier sein darf. Eine Fremde - Daheim, bei ihren neuen Eltern, eine Fremde - auf den Strassen ihrer neuen Heimat.
Was willst du denn noch mehr, Anna? Hauptsache, dass du lebst und dass du hier sein darfst.
Du solltest damit zufrieden sein- oder nicht?




:-(

Keine Kommentare :