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Marie
Liebe,
wie sie heute zu Nachkommen üblich sei, habe sie als Kind nie
erfahren, sagt die fast neunzigjährige Marie, als ich sie im
Alterszentrum, wo sie seit Kurzem wohnt, besuche.
Als
Älteste von dreizehn Kindern habe sie schon sehr früh vor allem
Arbeit und Verantwortung gekannt. Sie könne sich kaum erinnern, dass
sie einmal nicht auf jüngere Geschwister habe aufpassen müssen, sei
es auf dem anderthalbstündigen Schulweg, beim Vieh hüten oder beim
Sammeln von Beeren, Pilzen, Kräuter und anderem Essbarem, das die
Natur hergab. Auch hätten sie sich selten satt essen können -
einteilen und beiseitelegen für die damals noch viel strengeren
Winter, seien wichtig gewesen. Das, und das ständig fehlende Geld,
liessen immer nur das Notwendigste zu.
Freizeit
gab es kaum, meistens hätten Haus-, Stall-, Feld- oder Handarbeiten
gemacht werden müssen. Denn, „Zutun gab es immer - und Kinder
waren, aus heutiger Sicht, vor allem dazu da, Arbeiten zu übernehmen
und mitzuverdienen, sobald sie dazu imstande waren.“
Aber
schlimm sei das damals für sie nicht gewesen. Denn alle, die sie
kannte - in diesem, damals als ärmste Gegend der Schweiz geltenden
Hochtal - hätten es nicht besser gehabt.
„Man
kannte einfach nichts anderes“.
Allen
sei es so ergangen, ausser den paar wohlhabenden „Studierten“,
die geachtet waren oder den jämmerlichen Krämerseelen, die zwar
bewundert, aber zugleich verachtet wurden, weil sie Trunksucht,
Krankheiten und familiäres Leid gnadenlos ausnutzten und
schlussendlich den mausarmen Bauern in den schlimmen Jahren zwischen
den Kriegen, die Höfe für ein Butterbrot abluchsten.
Die
übelste Erinnerung an ihre Kindheit, vermutlich sogar die schlimmste
Erfahrung ihres Lebens war, als ein plötzliches Unwetter mit
anhaltendem Platzregen, sie und ihre Geschwister beim Hüten der
kleinen Vieherde auf einem Weideplatz, weit weg des abgelegenen
Heimathofes überraschten.
In
ganz kurzer Zeit verwandelte sich ein friedliches Wiesenbächlein,
das querend oberhalb des kleinen Heustalls die von Wald gesäumte
Matte durchfloss, in einen reissenden Wild-Bach. Schon bald riss
beidseitig des kleinen Unterstandes eine Schlammlawine einige ihrer
Geissen und Zicklein mit in den Wald.
„Ich
hatte solch unglaubliche Angst, als ich hilflos zusehen musste, wie
die armen Tiere fortgeschwemmt wurden, während ich versuchte, die
verängstigten Geschwister und restlichen Tiere in Sicherheit zu
bringen. Doch ich habe spürte, dass das einfache Hüttchen, das uns
noch vor der gewaltigen Schlammmasse schützte, der Naturgewalt mehr
lange standhalten konnte und, dass wir somit in Kürze den gleichen,
todbringenden Weg wie die Geissen würden gehen müssen. Ich war mit
der Situation und der riesigen Verantwortung völlig überfordert.“
Doch
plötzlich, aus zunächst unersichtlichen Gründen, sei eine grosse,
unterspülte Tanne mit lautem Getöse umgestürzt und habe sich
parallel zum Bach schützend vor die derangierte Hütte gelegt.
Die
Gefahr war gebannt.
Ob
der Zufall oder Gottes Hand im Spiel war, wisse sie nicht, doch
glaube sie heute eher an Letzteres.
Der
wild gewordene Bach habe unten im Dörfchen grosse Schäden
angerichtet, ja, ganze Dorfteile weggerissen und verwüstet. Ihre
Eltern, die bei anderen Bauern als Hilfskräfte gearbeitet hätten,
hätten ebenfalls bange Stunden erlebt, bis sie wussten, dass ihre
Kinder, Gott sei Dank, das Unwetter heil überstanden hatten - auch
wenn die fehlenden Geissen und das Geröll auf der Matte ein
erheblicher Verlust bedeutete.
Diese
verantwortungsvolle und harte Kindheit habe sie jedoch vor allem
positiv geprägt. Sie habe meistens in ihrer fünfundfünfzigjährigen
Ehe „geführt“, „vorangetrieben“ und „weiter gebracht“.
Oft habe sie „den Karren aus dem Dreck gezogen“ und das Leben in
die richtigen Bahnen gelenkt. Dazu habe natürlich auch ihr Ehemann
viel beigetragen, arbeitsam, gutmütig genügsam und grosszügig wie
er war.
Er,
der ebenfalls aus einer dreizehnköpfigen Kinderschar stammte, aber
als jüngster eher das Gegenteil von ihrer Kindheit erlebte, habe
sich ihr immer wunderbar angepasst und sei froh gewesen, wenn jemand
anderer die Zügel in beiden Händen hielt.
„Wäre
er wie ich oder ich wie er gewesen - das Gespann hätte nie so gut
und so lange harmoniert.“
©® Copyright by Herr Oter
:-)
1 Kommentar :
ja, ein gutes Gespann ist etwas wert. das sollte man nie vergessen. zwei, zusammen gespannt, eines schwarz, eines braun oder weiß, können viel bewegen.
grüße aus einem freien morgen
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