Fritz
„Meinen Vater verlor ich mit Vier“,
sagt er, während wir nebeneinander sitzen und warten.
Der ältere Herr ist mir auf Anhieb
sympathisch. Er hat ein überaus freundliches Gesicht, wache,
strahlende Augen, gepflegte Haare und ist adrett in Hellgrau
gekleidet. Er heisse Fritz und sei bald achtzig, wird er mir beim
Abschied sagen.
Wir warten erst seit Kurzem und
werden auch nicht lange bleiben, somit wird leider vieles, das mich
interessieren würde, unausgesprochen sein. Mir scheint jedoch, dass
er mir gerne mehr erzählen würde, denn ich brauche ihn, während er
erzählt, kaum etwas zu fragen.
„Fünf Jahre lang hatte unsere
Mutter nach Vaters Unfall alles versucht, die vier Kinder alleine zu
versorgen und grosszuziehen. Aber sie hatte die Behörden gegen sich
und halt nur wenig Unterstützung von Verwandten und Nachbarn. Die
Zeiten waren schlecht und jeder musste für „sich schauen“.
Die Familie wurde dann
auseinandergerissen und jeder kam an einen anderen Platz. Ich wurde
zu meinen Pflegeeltern auf einen Bauernhof gebracht, weit ab der
Übrigen.
Zu essen gab es wenig und immer in
der Küche, denn die heimelige Stube war der Familie vorbehalten. Für
einen wie mich taten es auch die abgetragenen Kleider der eigenen
Kinder und etwas zum Spielen brauchte ich auch nicht, denn immer
wieder musste ich hören, dass sie mich nicht aus Nächstenliebe,
sondern einen „Verdingbub“ zum Arbeiten genommen hätten.
So kam auch die Schule immer erst an
zweiter Stelle, wenn die Zeit neben der Arbeit halt noch reichte.
Jeden Morgen um fünf Uhr musste ich
in den Stall und kam deswegen auch oft zu spät zur Schule, was jedes
Mal eine Strafe nach sich zog. „Tatzen“ zum Beispiel, mit dem
Bambusstab des Lehrers einige Male auf die Finger gehauen oder vor
der ganzen Klasse eine halbe Stunde auf einem kantigen Holzscheit
knien, das war besonders schlimm.
Nach dem Unterricht blieb wegen der
Arbeit nur wenig Zeit für die Hausaufgaben, denn um acht oder neun
Uhr wollte einfach kaum noch etwas in meinen müden Kopf. Aber zum
Glück lernte ich sehr „ring“.
Ich war kein schlechter Schüler und
wurde aus diesem Grund vom Lehrer zur Sekundarschulprüfung
angemeldet. Doch am Morgen des Prüfungstages packte mich mein
Pflegevater, schmiss den abgewetzten Schulsack in eine Ecke und
meinte, dass sie nicht noch jahrelang für einen „Gstudierten“
zahlen wollten. Ich musste mit ihm bis am späten Abend in den Wald.
Am anderen Tag sperrte mich der Lehrer den ganzen Vormittag in den
dunklen Kohlenkeller, weil ich nicht zur Prüfung erschienen war.
Dafür musste ich am Nachmittag zwei Stunden länger bleiben um
nachzuholen, was ich am Morgen versäumt hatte. Als ich nach Hause
kam, gab's dann gleich Schläge mit dem Hosengurt, weil ich zu spät
nach Hause kam.
Solche Beispiele könnte ich noch
viele erzählen.
Besonders hart war es für mich
jeweils an Weihnachten, wenn alle anderen in der warmen Stube vor dem
festlich geschmückten Baum feierten, heilige Lieder sangen, lachten
und sich über die Geschenke freuten. Derweil musste ich in der Küche
bleiben, hörte alles mit und auch das Weihnachtsessen wurde an mir
vorbei ins Wohnzimmer getragen. Während die anderen danach in die
Mitternachtsmesse gingen, war ich bereits im Bett und hatte mich in
den Schlaf geweint.
Nach der Schulzeit konnte ich keine
Lehre machen – ich sei zu dumm dafür und das koste ja auch noch,
war die Begründung des Pflegevaters.
Doch mit zwanzig mussten sie mich
gehen lassen. Ich fand einen guten Arbeitgeber, der mich gefördert
hat. Ich war willig und fleissig und Arbeit gab es ja genug. Ich habe
mich hochgearbeitet und es doch noch zu etwas gebracht. Auch eine
liebe, tüchtige Frau habe ich gefunden und mir war es immer wichtig,
ein guter und liebevoller Vater für meine Kinder zu sein. Ich wollte
ihnen geben, was mir als Kind so sehr gefehlt hat.
Ja, das Leben hat mich mehr als nur
entschädigt für die schwere Kindheit und selten belastet mich diese
Vergangenheit. Auch wenn man hierzulande gerade jetzt sehr viel über
dieses dunkle Thema spricht und man dadurch immer wieder daran
erinnert wird. Aber es ist auch befriedigend, dass die Allgemeinheit
endlich die misslichen Zustände von damals zur Kenntnis nimmt und
diese üble Vergangenheit aufarbeitet.
Es scheint sogar, dass sich die
Nichtbetroffenen mit diesen schlimmen Geschichten noch fast schwerer
tun, denn die meisten haben, als Mitschüler oder Nachbarn, „einen
von denen“ gekannt und waren dabei, wenn sie „gehänselt“,
geplagt und ausgegrenzt wurden.
©/® Copyright by Herr Oter
Der Film zum Thema:
« Der Verdingbub» von Markus Imboden
Basierend auf 100'000 wahren Geschichten
:-±
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