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Dienstag, 9. Juni 2015

Mein erster Kinobesuch





Mein erster Kinobesuch

 

Der französische Filmschauspieler Pierre Brice ist in Paris, 86-jährig, an einer Lungenentzündung gestorben.
Er wurde als 'Pierre Louis Baron Le Bris' in Brest geboren, war lange Zeit Soldat und gelangte 1962 als Darsteller des 'Winnetou' in den Karl-May-Verfilmungen zu Weltruhm. Nun ist der 'echte' Winnetou, edler Indianer und Häuptling der Mescalero-Apachen, nach mehrfachen schauspielerischen Wiederauferstehungen vor wenigen Tagen endgültig in die ewigen Jagdgründe eingegangen.

Das erinnert mich an meinen ersten Besuch in einem Kino.

 

Ich war damals etwa vierzehn Jahre alt. Wie die meisten kleinen Kinder hatten wir natürlich auch ‘Indianerlis’ gespielt, aber die Karl May Bücher haben mich nie sonderlich interessiert. Mir gefiel nur Winnetous Schwester ausserordentlich gut.
Darum hing bei mir über dem Bett, statt Pierre Brice als Winnetou oder Lex Barker als Old Shatterhand, ein riesengrosses Poster der jungen, damals 24-jährigen, Marie Versini, als bildhübsche Häuptlingstochter Nscho-tschi an der Wand.
Für diese Nscho-tschi ging ich auch zum ersten Mal in meinem Leben in ein Kino – mit dem Velo, im nächst grösseren Ort.

„Bist du schon zwölf?“, fragte die korpulente Kassiererin ziemlich unwirsch. Ich war etwas aufgeregt.
„Ja“, kam es kleinlaut von mir, „dreizehn!“.
„Welcher Rang?“
Was, welcher Rang? Ich kam ins Stottern.
„Oben, unten, vorne hinten?“ knapp und forsch kam die Erklärung.
„Vorne!“, sagte ich erleichtert.
So war man der Leinwand doch am nächsten, oder? Komisch nur, dass das trotzdem die billigsten Plätze waren... Aber das kam mir nicht ungelegen, denn ich hatte gelernt, mein erarbeitetes ‘Sackgeld’ gut einzuteilen.
Natürlich war ich viel zu früh. Im düsteren Kinosaal waren erst wenige Plätze in der Mitte besetzt.
Ein Mann mit Taschenlampe verlangte nach dem Billett, und scheuchte mich dann den langen Gang hinunter: „Erste drei Reihen.“
Scheu setzte ich mich auf den ersten Klappstuhl der zweituntersten, ziemlich langen Bankreihe. Ich stand dann noch einige mal auf, bis sie ganz gefüllt war. Der Holzstuhl war ungepolstert und unbequem. Man musste steil nach oben sehen und die riesige Leinwand konnte man so nahe auch nicht mit einem Blick erfassen. So löste sich dann das Rätsel mit den billigen Plätzen rasch.

Nach einiger Zeit wurde es ganz dunkel. Aber nicht der Film begann, sondern die Reklame.
Ich musste ziemlich lange warten, bis mein Idol endlich zu sehen war. Ihr erster Auftritt war auch nur ganz kurz und in einer dunklen Abendszene. Darum war sie nur schemenhaft zu erkennen. Doch der Ausstrahlung von Nscho-tschi tat das keinen Abbruch.
Danach musste ich mich wieder sehr lange gedulden, bis das schöne Indianermädchen das nächste Mal ins Bild kam. Vorher hatte ich noch einige heftige Explosionen und spektakuläre Kampfszenen mit stürzenden Pferden und vielen Toten über mich ergehen zu lassen. Alles hautnah, übermächtig gross und sehr laut. Doch das Kino-Publikum war begeistert, ich eher 'beeindruckt'. Denn Zuhause hatten wir zu der Zeit noch nicht einmal einen schwarzweiss Fernseher. Darum schloss ich manchmal einfach ein wenig die Augen, wenn mit das Ganze 'zu nahe' kam.

Irgendwann ging das diffuse Licht im Kinosaal wieder an. Ich war enttäuscht, mein Idol nur so kurz und erst noch undeutlich gesehen zu haben. Aber viele blieben sitzen, denn zum Glück war nur Pause. Schüchtern wie ich war, getraute auch ich mich nicht von meinen Platz, obschon ich eigentlich zur Toilette musste. Doch, man konnte ja nie wissen wenn es weiterging.

Nach geraumer Zeit füllte sich dann die grosse Leinwand wieder mit Leben – Indianer, Gauner, Schurken, Spassmacher und Soldaten, auch viele Pferde und wunderschöne Landschaften waren zu sehen, nur meine Nscho-tschi nicht. Wann würde sie denn endlich auftauchen?

Erst musste noch Winnetou vom Marterpfahl befreit und der böse Santer bekämpft werden. Saloons, Zeltlager und weitere Pferde flogen durch die Luft. Auch ein paar Dutzend Rothäute und Weisse wurden noch niedergemetzelt – erst dann kam endlich der nächste Auftritt meiner Favoritin.
Zum Glück, denn meine Blase meldete sich immer heftiger.

Ihr Auftritt war ein Erlebnis, das Warten und der vorangegangene Gräuel hatten sich gelohnt. Hingebungsvoll pflegte sie den am Hals verletzten Old Shatterhand. Rührend tupfte sie dem Verwundeten den Schweiss von der Stirne, während sie ihn mit ihren grossen, dunklen Augen zärtlich ansah. Man sah, dass sich die junge Indianerin zum Todfeind ihres Stammes hingezogen fühlte. Aufopfernd pflegte sie ihn, während er sich im Fieberwahn wälzte. Tag und Nacht sass Nscho-tschi im Schein einer Öllampe an seinem Lager. Dann, kaum war sie kurz eingenickt, erwachte der Genesene und versuchte sich zu erheben. Mit zärtlichen Blicken drückte sie den stämmigen Mann sanft auf die weissschwarze Fellunterlage zurück.
„Wie heisst du, wie dein Name?” fragte der Verwundete. „Sag wie du heisst!”
„In meiner Sprache Nscho-tschi, das bedeutet 'Schöner Tag'.”
Old Shatterhand und ich waren hingerissen.
Im Kino, so gross und so nahe vor mir, erschien sie mir noch viel schöner und strahlender als auf dem Poster Zuhause. Zwischendurch vergass ich sogar meine übervolle Blase.

Nach dem eindrücklichen Dialog der Beiden musste Old Shatterhand essen, damit er wieder zu Kräften kam. Dazu löffelte die Schönheit dem Helden mit zärtlichem Blick eine rote, dünne Suppe ein. Danach musste er schlafen, damit er wieder gesund wurde – nur, damit man ihn und seine beiden Kollegen später tüchtig martern und dann töten konnte. Old Shatterhand versicherte ihr zwar glaubhaft, dass er Winnetou aus den Händen der Kiowas gerettet hatte, aber er konnte es nicht beweisen.
„Aber ist es war? Schwörst du es?“, fragte darauf die angebetete Schönheit den inzwischen bereits bärtigen Patienten.
„Ich schwöre es.“
In der schönsten Szene des Films schaute das bezaubernde Indianer-Mädchen den Helden mit ihren grossen dunklen Augen nachdenklich an und sagte dann leise mit ihrem unvergleichlich 'indianischen' Akzent: „Isch glaube dir.“ Trotzig fügte sie dann noch hinzu: „Wenn du sterben musst, dann will auch isch nicht leben – das schwöre isch".
Mich betrübte diese Ankündigung nicht. Hauptsache, das Ganze dauerte nicht mehr allzu lange, denn meine Blase meldete bereits Notstand!

Nscho-tschi wollte also für ihren Old Shatterhand kämpfen und seine Unschuld und gute Gesinnung beweisen. Doch den dramatischen Rest des Filmes habe ich dann leider nicht mehr richtig mitbekommen. Ich führte meinen persönlichen Kampf – gegen den Harndrang. Sogar der tragische Tod meiner Heldin liess mich vollkommen unberührt und während das halbe Kino mit den Tränen kämpfte, kämpfte ich gegen das Auslaufen.

Was war ich froh, als der Film endlich zu Ende war!
Mit einem unglücklichen Ende für die schöne Nscho-tschi, aber zum Glück mit einem 'Happy End' für mich. Ich hatte den Kampf gegen meine übervolle Blase gewonnen und mein erstes Kinoerlebnis ging zum Glück nicht in die Hose.





Marie Versini als Nscho-tschi
© Copyright Bild-Autor: unbekannt /  Lizenz:  GNU 1.2 / Quelle: Karl-May-Wiki  




:)

2 Kommentare :

Anonym hat gesagt…
Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.
Herr Oter hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.