Quer
durch Frankreich
Durch Frankreich,
von links nach rechts, von Ost nach West, von den Bergen bis ans Meer und von Basel am Rhein bis nach Auderville am Ärmelkanal – und natürlich auch
wieder zurück. Das waren spannende 3200 Kilometer, durch grossartige
Landschaften mit Himmel und Meer soweit das Auge reicht –natürlich
faszinierend für einen Schweizer, der sonst schnell mal einen Berg vor den Augen hat.
Wir
besuchten wohlhabende, aber leidenschaftslose Touristenorte mit
pulsierendem Leben und mausarme, verträumte Provinz-Dörfer mit viel
Charme und baufälligen Häusern, die man zu hunderten kaufen könnte.
Oft trafen wir auf die überschäumende Ferienstimmung der Gegenwart und
verweilten in der bedrückenden Geschichte der leidvollen
Vergangenheit. Tausende goldgelbe Strohballen sahen wir auf endlosen
Feldern und ebenso viele schneeweisse Grabkreuze und graue Gedenkplatten auf geschichtsträchtigem Gelände, beides vor dem
gleichen tiefblauen Himmel.
Freud und
Leid, mit dem unsicheren Blick des Fremden gesehen, das nie richtig
zu überzeugen vermochte, aber oftmals ziemlich nachdenklich stimmte.
Die
Eindrücke dieser Reise waren grossartig und beeindruckend, aber auch
aufwühlend und bedrückend. Sie könnten gegensätzlicher nicht
sein.
Darüber
werde ich hier in mehreren Folgen berichten und dabei nicht nur auf
der oberflächlichen Reiseberichterstattung bleiben, sondern manchmal
auch ganz schön in die Tiefe gehen und hervorheben, was meine
nachträglichen Recherchen auf die vielen Fragen, die sich mir
während dieser Reise immer wieder stellten, hervorbrachten.
Teil 1:
Die Geisterstadt
Die
ersten beiden Tage unserer zweiwöchigen Sommerreise quer durch
Frankreich sind geprägt von langen Autofahrten. Darum benützen wir
am ersten Tag zeitsparend die kostenpflichtige Autobahn, denn das
facettenreichen Burgund ist das Ziel einer späteren Reise – im Herbst während der Weinlese. Wir wechseln also erst am späten Nachmittag bei Avallon auf die Hauptstrasse N6 und wie immer auf unserer Reise durch Frankreich finden wir trotz Ferienzeit schnell einen angenehmen Campingplatz.
Reserviert haben wir nie, denn zahlreiche
französische Gemeinden bieten den Reisenden einen meist preiswerten
„Camping Municipal“ an.
So spannen wir unser Zelt für die erste Nacht zufällig in
Vermenton
auf – einer kleinen Burgunder Gemeinde am Fluss Cure.
Der Campingplatz (Bilder) macht einen sehr gepflegten Eindruck, man ist auch freundlich und er ist recht günstig – aber trotz Hochsaison ist er nur schwach besetzt.
Nach dem
Abendessen haben wir Lust auf ein kühles „Blondes“ oder ein Glas
„Roten“ – am liebsten einen einheimischen Burgunder – also
machen wir uns auf zum nahen Ort. Wir spazieren auf dem idyllisch
Uferweg am grosszügigen, öffentlichen Park mit Grillstellen,
Holztischen, Bademöglichkeiten und lauschigen Sitzbänken unter
stattlichen Bäumen vorbei. Nach der eher verwahrlosten
Hafenanlage (Bilder) mit leise schaukelnden Hausbooten treffen wir am Dorfrand
auf ein altes Gemäuer das von glasklarem Wasser durchflossen wird.
Dabei
muss es sich um eines dieser typisch burgundischen Waschhäuser
handeln.
Sie sind
oft direkt um eine Quelle herum gebaut oder über eine direkte
Zuleitung mit einer verbunden. Das erklärt mir nun auch, warum das
kristallklare, frische Wasser ohne ersichtlichen Zufluss plötzlich
vorhanden ist.
Der Bau
dieser Waschhäuser, oft am selben Ort eines früheren offenen
Waschplatzes, begann gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die vielen
Epidemien der Vergangenheit bewogen Napoleon die Bauten zu fördern.
Der Bau der Waschhäuser wurde im Regelfall aus der jeweiligen
Gemeindekasse finanziert, denn auch das oft – nach der Auffassung von
kirchlichen und behördlichen Autoritäten – allzu offenherzige und
freizügige Verhalten der Waschfrauen an den Waschplätzen sollte unterbunden oder
zumindest hinter Mauern versteckt werden. Die nüchternen
Zweckbauten, ohne jede Verzierung, waren der Funktion angepasst und
mussten an manchen
Orten – dort wo das Wasser eher rar war –
auch noch zur
Viehtränke herhalten.
Die
ersten Waschhäuser waren ungedeckt, später wurde „der Komfort“
der Frauen mit einer ganzen oder teilweisen Überdeckung erhöht.
Hier in
Vermenton sind nur die beiden seitlichen Gänge abgedeckt. Die
Waschplätze entlang des mit kaltem Quellwasser gefüllten
Wasserbeckens waren damit nur mangelhaft vor dem Wetter geschützt. Die Frauen knieten jeweils auf der teilweise im Wasser liegenden Waschfläche oder anderenorts hinter den ins Wasser getauchten, geneigten Waschsteinen und bearbeiteten mit einem hölzernen
Schläger, dem Bleuel, oder bloss mit der Hand mühsam die Wäschestücke. Bürsten waren zu
dieser Zeit kaum in Gebrauch, genau so wie Waschsteine oder Waschtische an denen man stehend arbeiten konnte.
(Link für Bild)
Mancherorts
war ein Ofen eingebaut, der nebst etwas Wärme im Winter
auch warmes Wasser und vor allem die kaliumreiche Asche lieferte, die
damals als „Waschmittel“ eingesetzt wurde.
Mit einer Werche (Wehr) am Ende des Waschhauses wurde der Wasserstand im Becken konstant gehalten.
Da Männer
in den Waschhäusern nicht zugelassen waren, wurden diese nebst ihrer
eigentlichen Funktion auch zum Treffpunkt der Frauen vom Dorf und aus
der Umgebung. Denn „La blanchisserie“ bot trotz
der harten Arbeit immer auch etwas Raum für weibliche Freiheit.
Sonst war
der Platz der Frau das Zuhause, Abwechslung bot sich selten, Feste
waren rar und die Wirtshäuser waren ihnen verwehrt. Es war auch
unvorstellbar, dass sie an öffentlichen Versammlungen teilhatten,
das blieb den Männern vorbehalten. So war eben das Waschhaus der Ort
von fraulicher Begegnung, Austausch und weiblicher Geselligkeit.
Gegenseitige Anteilname,
vielleicht etwas seelische Unterstützung und möglicherweise auch tatkräftige Frauensolidarität gab es manchmal nur im
Waschhaus, wenn das Heimwesen abgelegen war.
Eine
städtische Verordnung regelte die Benutzung der Waschhäuser und die Aufsicht darüber lag dementsprechend bei den ausschliesslich männlichen Ortsbehörden, denn die Frauen hatten damals weder ein Wahlrecht, noch das
Recht gewählt zu werden. Auf
diese Weise versuchten die Männer auch im Waschhaus Einfluss zu nehmen und
wenigstens von aussen die Kontrolle über dieses kleine,
weibliche Refugium zu bewahren.
„Le
lavoir“– das Waschhaus, war auch immer ein Ort der
Kommunikation, dort wo die Frauen ungestört ihre Erfahrungen und Neuigkeiten
austauschen konnten – die Guten und die Schlechten, die Wahrheiten,
die Vermutungen und auch die Gerüchte.
Durch diesen „Informationsaustausch“ im Zusammenspiel
mit der klatschenden Geräuschkulisse beim „Schlagen“ der Wäsche, ist auch das Wort „Klatsch“ entstanden. Aber auch der abwertende
Vergleich «geschwätzig wie ein Waschweib» erinnert noch heute
„sprichwörtlich“ an den Tratsch der Wäscherinnen.
Obschon,
Sprache war für die Information gar nicht immer notwendig. Denn Wäsche,
insbesondere schmutzige, sagt doch einiges über eine Familie aus,
wenn man den Schmutz, die Qualität, den Zustand oder die “Fasson“
der Wäsche zu interpretieren weiss.
Diese
Art der „Bildsprache“ zeigt sich auch in Ausdrücken wie, «die schmutzige Wäsche anderer waschen» oder «dreckige Wäsche in der Öffentlichkeit waschen» oder «wer fehl
am Platz ist, der erbte das Schmutzwasser der anderen» oder «in
trüben Wassern kann man nicht sauber waschen».
Aber nicht zuletzt auch wegen der kleinen Kindern, die die Frauen ja meistens mit
dabei hatten, konnte nicht immer alles offen ausgesprochen
werden.
Manchmal gab es dort natürlich auch Streitigkeiten, die dann auch leicht entarten konnten.
Der Bleuel (Wäscheschlegel) fand ein anderes Ziel als vorgesehen
oder es wurde mit nassem Leinen um sich geschlagen. An der nötigen
Kraft fehlte es den damaligen Frauen ja nicht. «Dir bleut bald was»
ist ein Ausdruck dieser schlagfertigen Waschweiber, wenn sie mit dem Bleuel drohten.
Die
harte, mühsame Arbeit begann oft in der Morgendämmerung und dauerte
manchmal bis zum Eindunkeln. Aber Gesang und Gelächter, etwas zu
Essen, ein guter Tropfen, etwas Absinth oder Glühwein liessen auch
manchmal die Sorgen des Alltags und Strapazen in der rauen,
nasskalten Einrichtung etwas vergessen.
Kurzgesagt,
die Burgundischen Waschhäuser waren auch ein Ort voll von prallem
Leben.
Hier in
Vermenton, ergiesst sich das kristallklare Wasser am Ende des Waschhauses, heute vermutlich meist
ungenutzt, in den Dorfbach. An diesem
Abend ist der vom kurzen, aber heftigen Platzregen während des Nachtessens
noch immer dreckig braun gefärbt und stinkt etwas.
Aber nun
strahlt bereits wieder die untergehende Sonne und es ist angenehm warm. Trotzdem – diese Ortschaft mit seinen 1100 Einwohner scheint völlig
ausgestorben. Kein Mensch weit und breit.
Irgendwo in den engen Gassen kläfft zwar ein Hund,
auch eine junge, magere Katze streicht um eine Hausecke und jemand
rüttelt von innen an einer geschlossenen Holztüre – etwas
gespensterhaft das Ganze!
Aber doch, durch ein offenes Fenster sehe ich eine weisshaarige, sehr alte Frau in einer blaugemusterten Kasack-Schürze, die scheinbar in der Küche etwas hantiert. Ist sie die einzige, die noch in dieser "Geisterstadt" lebt, ist man versucht sich zu fragen.
Der Ort,
dessen Ortsname "Land der schönen Hügel" bedeutet, ist
arm, das sieht man. Die meisten Häuser im Zentrum sind verlottert
und viele zum Verkauf angeboten. Läden gibt es ausser einem
Supermarkt keine mehr, und wie es scheint auch kein geöffnetes Lokal
um etwas zu trinken, denn das einzige Restaurant des Ortes hat am
Montag, also am Tag unseres Besuches, geschlossen. Die Strassen sind von Schlaglöchern übersät und alles erscheint mir irgendwie trostlos. Sogar die Kirche „Notre-Dame de Vermenton“
ein stattlicher Bau aus dem 12. Jahrhundert, wirkt keineswegs einladend und ist bei unserem Besuch – natürlich geschlossen. Aber auch so ist
ihr schlechter Zustand leicht erkennbar, wie auch die Statuen beim
Eingang deutlich zeigen, die sichtlich schon lange auf die Strasse
bröckeln.
Auch der
mächtige Südturm „Tour de Méridien“ – Rest einer
Befestigungsanlage aus dem vierzehnten Jahrhundert – an
der ehemals wichtigen Nationalstrasse 6, hätte eine Auffrischung
dringend nötig.
Tour Méridien, Vermenton
Autor: Pline - Wikimedia Nr. 0145
Den Namen trägt der Turm, weil daneben das wohl
berühmteste Monument dieser Ortschaft steht, die Sonnen-Uhr „Le
Méridien“.
Cadran solaire, Vermenton
Autor: Pline - Wikimedia Nr. 0154
"Le
Méridien" wurde gemäss Gravur im Jahr 1790 erstellt. Sie ist aus
heimischem Kalkstein geschaffen und 3 m hoch. Sehr aussergewöhnlich
ist ihr doppelseitiges senkrechtes Zifferblatt, je eines in
nördlicher und in südlicher Ausrichtung. Der Metallstab für den
zeitzeigenden Schattenwurf ist auf einem Meridian parallel zur
Rotationsachse der Erde ausgerichtet, daher stammt auch der Name der
Sonnenuhr. Er ist aber nur noch auf der Südseite vorhanden.
Das
Zifferblatt der Südansicht ist der Nationalstrasse zugewandt. Weil
es am besten sichtbar ist, ist es auch reichhaltig verziert. Es wird
während des ganzen Tages von der Sonne angestrahlt. Die Stunden sind
darum im Halbkreis von 6 Uhr morgens (links oben), über zwölf Uhr
mittags (ganz unten), bis abends 6 Uhr (rechts oben) in römischen
Ziffern eingraviert.
Darüber, nach einem dekorativen Ornament, die
Darstellung der Sonne mit zwei Sternen.
Die eher
schlichte, „dunkle“ Rückseite der Sonnenuhr ist weniger sichtbar
und der dahinterliegenden Kirche zugewandt. Sie wird von der auf- und
untergehenden Sonne nur im Sommer angestrahlt, wenn der Azimut
zwischen der Tagundnachtgleiche im März und im September
überschritten wird. Darum finden man auf ihr auch nur die römischen
Ziffern 4, 5, 6 für die Morgenstunden und die 6 bis 8 für die
Abendstunden.
Statt der
schmückenden Ornamente und Gestirne findend man auf der Rückseite
dafür die mahnenden Worte:
"CRAIGNONS
L'ŒIL QUI VOIT TOUT“
"Fürchten
wir das Auge, das alles sieht."
Was ist
los mit diesem halbausgestorbenen Städtchen, frage ich mich an
diesem Abend und danach noch einige Male in den nächsten zwei
Wochen. Denn solche „darbende“ Orte gibt es auf unserer Reise
viele.
Einige
Orte verbreiten zwar noch einen morbiden, verträumten Charme, die
meisten aber bereits das Antlitz des Zerfalls und einer
tiefgreifenden Hoffnungslosigkeit. Von den Bewohnern verlassen, von
der Politik vergessen und vom Zahn der Zeit zerfressen.
Sie alle
scheinen auf dem Weg in die moderne Gegenwart irgendwann stehen
geblieben zu sein und der starke Niedergang der letzten Jahrzehnte
hat seine Spuren deutlich hinterlassen. Die Einwohner scheinen stark
überaltert zu sein und ihre Häuser haben den einstigen Glanz der
Vergangenheit verloren. Sie sind oft baufällig oder scheinen bereits
verlassen. Die Dorfstrassen sind in miserablem Zustand, es gibt oft
keine Poststelle und keine Einkaufmöglichkeiten mehr. Man fährt
zwanzig Kilometer zum nächsten Supermarkt und auch das Schulhaus
steht leer, denn die wenigen Kinder fahren mit dem Schulbus zur
nächsten Bezirksschule.
Zuhause
suche ich im Internet nach Erklärungen für den fatalen Abstieg von
Vermenton.
Für den,
den es interessiert, habe ich die Geschichte dieser Kleinstadt
zusammengetragen und auch mögliche Gründe herausgefunden oder
aus den spärlichen Angaben eine Erklärung interpretiert.
Was
ist los mit Vermenton?
Oder die exemplarische Geschichte einer kleinen französischen
Provinzstadt – das ist dann der zweite Teil dieses
Reiseberichtes „Quer durch Frankreich“.
(Zum 2. Teil)
:)