Quer durch Frankreich
Spannende 3200 Kilometer von Basel am Rhein bis nach Auderville am Ärmelkanal und zurück – durch grossartige Landschaften, leidenschaftslose Touristenorte mit pulsierendem Leben und mausarme, verträumte Provinz-Dörfer. Überschäumende Ferienstimmung der Gegenwart hier und bedrückenden Geschichte der leidvollen Vergangenheit dort. Tausende goldgelbe Strohballen auf endlosen Feldern und ebenso viele schneeweisse Grabkreuze und graue Gedenkplatten auf geschichtsträchtigem Gelände, beides vor dem gleichen tiefblauen Himmel.
Freud und Leid, mit dem unsicheren Blick des Fremden gesehen, das nie richtig zu überzeugen vermochte, aber oftmals ziemlich nachdenklich stimmte. Die Eindrücke dieser Reise waren grossartig und beeindruckend, aber auch aufwühlend und bedrückend.
Sie könnten gegensätzlicher nicht sein.
Darüber werde ich hier in mehreren Folgen berichten und dabei nicht nur auf der oberflächlichen Reiseberichterstattung bleiben, sondern manchmal auch ganz schön in die Tiefe gehen und hervorheben, was meine nachträglichen Recherchen auf die vielen Fragen, die sich mir während dieser Reise immer wieder stellten, hervorbrachten.
Teil 2: (Zum Teil 1)
Was ist los mit Vermenton?
Oder die exemplarische Geschichte vom Auf- und Abstieg einer kleinen französischen Provinzstadt.
Wichtiger Hinweis:
Die Geschichte von Vermenton habe ich aus diversen Dokumenten, die im Internet zu finden sind, zusammengestellt.
Die Übersetzung ins Deutsche war, bedingt durch meinen mangelnden Französischkenntnissen, nicht immer ganz einfach. Darum musste ich einiges auch einfach „interpretieren“. Auch die Schlüsse, die ich aus den gefundenen Daten und Fakten gezogen habe, müssen nicht den tatsächlichen Begebenheiten entsprechen.
Von der Gründung bis zur Hochblüte:
Die ältesten Dokumente über Vermenton gehen auf das Jahr 901 zurück.
Im Jahr 1157 wird dann eine Burg erwähnt, die den Grafen von Auxerre gehörte. Doch bereits im Jahr 1213 wandelt der Bischof von Auxerre die Burgkapelle in eine öffentliche Pfarrkirche um. Während die Burg später aufgegeben und abgetragen wurde, wird die Dorfkirche während Jahrhunderten erhalten und bis heute genutzt. Sarkophage, die im achtzehnten Jahrhundert bei dieser Kirche gefunden wurden, belegen sogar einen ersten Friedhof aus dem 5. Jahrhundert.
1368 wurde vom König eine erste Stadtmauer um das Gebiert der Kirche bewilligt und 1514 erlaubte König Louis XII den Bau einer zweiten, grösseren Umfriedung. Die aufblühende Stadt Vermenton wurde zu dieser Zeit zur Ausübung mehrere Gerichtsbarkeiten befähigt:
Die des Königs (mit einem Galgen), die der Kirche (durch die Abbey Reigny) und die der Feudalherren (Bazarnes). Ab 1746 fanden sich die verschiedenen Gerichte dann jeweils im Südturm, dem sogenannten „grossen Turm“ und heutigen "Tour du Méridien“, zusammen. Im untersten Stockwerk des Bauwerkes war auch das Gefängnis untergebracht.
In Vermenton hatte im frühen Mittelalter – nebst den Privilegien einer Stadt – auch ein aufstrebendes Kloster grossen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung. Denn in der 1128 gegründeten Zisterzienserabtei „Reigny“ wohnten in der Mitte des 14. Jahrhunderts bis zu 300 Mönche.
Nebst der Verwaltung einer grossen landwirtschaftlichen Fläche, ausgedehnten Wäldern, Rebbergen und dem Betrieb von mehreren Mühlen pflegten sie im sogenannte "Maison Dieu", das zwischen den grossen Mühlen angesiedelt war, auch viele Kranke. Ebenso auch im “Leprosorium“, einem Siechenhaus für Leprakranke, das in der „seuchenfreien“ Zeit zum Krankenhaus und Hospiz für die ärmere Bevölkerung umfunktioniert wurde. Aber bereits 1358 wurden die beiden Einrichtungen von englischen Soldaten stark beschädigt.
Diese Betriebe der Ordensgemeinschaft beschäftigten nebst vielen Arbeitskräften auch eine grosse Zahl an Zulieferbetrieben.
Vor allem aber hatte der Fluss „Cure“ eine grosse wirtschaftliche Bedeutung für die Stadt und die Region.
So wurde in Vermenton bereits im Jahre 1238 eine Brücke über den Fluss gebaut. Die einzige weit und breit. Bis zu ihrer Zerstörung während der Religionskriege im sechzehnten Jahrhundert – um die Protestanten zu blockieren – brachte dieser wichtige Übergang viel Reise- und Güterverkehr ins Städtchen, von dem man profitieren konnte. Ein Wiederaufbau ist danach aber trotzdem mehrmals gescheitert.
Der Fluss nach Paris hatte aber vor allem als Wasserstrasse eine sehr grosse Bedeutung für die Stadt. Auf ihm wurden jahrhundertelang diverse Güter transportiert, von 1546 bis 1926 insbesondere Holz aus dem Gebiet „Morvan“, einem bewaldeten Granitmassiv östlich von Vermenton. Die riesigen Holz-Mengen, die damals einen grossen Teil der Öfen der Hauptstadt Paris befeuerten, erlaubten es, in Vermenton einen Hafen mit einem Stauwehr zu bauen. Das Holz wurde zu Flössen zusammengebunden (1,14 x 4,56 m) und diese dann aneinandergereiht, bis „der Zug“ eine stattliche Länge von 70 Metern erreichte. Diese „Züge“ ergaben so zwischen 180 und 240 Ster (m3) Holz. Durchschnittlich verliessen zwischen 1796 und 1816 jeweils 2 Züge pro Tag den Hafen von Vermenton und im Jahr 1804 erreicht man sogar den Rekord von 1051 Transporten.
3 bis 4 Flösser wurden pro Zug benötigt und diese brachten dann oft bei der Rückkehr verschiedenste Handels-Waren aus Paris mit, die in anderen ländlichen Regionen damals noch nicht erhältlich waren.
Auch Granit aus dem Zentralmassiv wurde transportiert und die grossen Kalkvorkommen in der Gegend wurden genutzt um auch eine einträgliche Zementproduktion aufzubauen.
Zusätzlich zu der Wasserstrasse führte aber auch eine wichtige, nationale Landstrasse nach Paris. Die spätere „Route nationale“ (N6), führt mitten durch das Städtchen. Auf ihr reiste beispielsweise auch Napoleon, von der Insel Elba herkommend, in die Hauptstadt und blieb, gemäss den Protokollen, in Vermenton zum Mittagessen.
Die Verwaltung und Betriebe einer Handelsstadt, die Regionalverwaltung, das Kloster mit seinen Arbeitsstätten, die Flösserei, die Gewinnung aus den diversen Kalköfen und Mühlen und der Ertrag der Rebberge brachten viel Arbeit und Wohlstand in die Gegend.
Vermenton erlebte in dieser Zeit seine Hochblüte.
Der Niedergang und die Abwanderung:
Bereits im 17./18. Jahrhundert verlor das Kloster „Reigny“ an Einfluss und Bedeutung, was sich nicht zuletzt auch in einem starken Rückgang der anwesenden Mönche bemerkbar machte. Von ehemals 300 Mönchen, die in der Mitte des 14. Jhr. das Kloster beherbergte, waren bei der teilweisen Zerstörung und der nachfolgenden Auflösung während der Französischen Revolution (1789 bis 1799), lediglich noch acht Mönche dort anwesend.
Abbaye de Reigny in Vermenton heute
Autor Patrick89 - Wikimedia
Dann, im Jahr 1887, markierte der Schädling Reblaus einen grossen Rückschlag im Wein-Geschäft. Doch trotz der Verschlechterung der Wirtschaftslage bauten gerade in dieser Zeit viele Winzer kleine, trockene Rebberghütten aus Stein um sich vor dem nassen Wetter zu schützen. Man wehrte sich also!
Im Jahr 1873 erhielt Vermenton einen Bahnhof der rasch recht gut frequentiert wurde. So stiegen im ersten vollständigen Betriebsjahr bereits 7504 Personen in einen der spärlich verkehrenden Züge. Aber auch für den Güterverkehr wurde nun immer öfter auf den Schienenweg gesetzt.
Somit verlor bis 1923 der Transportweg „Cure“ seine Bedeutung völlig und wurde eingestellt. Auch von den Kalköfen blieb nichts mehr übrig, ausser einer Brücke über den Fluss, einigen Metern Schiene und einem tiefen Graben, der zur Förderung des Kalks gegraben wurde. Ebenso sind das Kloster, die Mühlen und die Spitäler nicht mehr in Betrieb.
Während des Ersten Weltkrieges (1914-1918) wurde in Vermenton ein grosses Truppen-Übungslager eingerichtet. Im Zweiten Weltkrieges wurde die Stadt von den Deutschen besetzt und die verbliebenen Gebäude des ehemaligen Klosters „Reigny“ wurden, bis zu Befreiung des geschundenen Städtchens am 26. August 1945, zur Anlaufstelle des französischen Wiederstandes.
Es scheint, dass sich Vermenton danach nicht mehr richtig erholen konnte und den Anschluss an die aufstrebende Wirtschaftsmacht Frankreich verpasste. 1963 verliess auch noch der rege Durchgangsverkehr von Lyon nach Paris das Städtchen, denn die Autoroute A6 wurde eröffnet und die ehemals stolze Nationalstrasse 6 wurde zur holprige Provinz-Landstrasse. Die einen mochten die Ruhe begrüsst haben, für andere war es das Ende der Existenz.
So auch für zwei zwanzigjährige, slawische Burschen, die zur Umgehung von Zwangsarbeit in Deutschland, in Frankreich nach einer Ausbildung begannen selber Knöpfe, Broschen und Keramikschmuck in Handarbeit herzustellen. Der Erfolg ermöglichte ihnen nach kurzer Zeit eine kostengünstigere Serien-Produktion. Die Nachfrage stiegt rasch, denn nach dem Krieg mochten die Frauen endlich wieder Farben auf ihren grauen Kleidern und so kam ihnen dieser preisgünstige Emailschmuck gerade gelegen. Im Oktober 1946 bezogen die beiden eine alte Fabrik an der Stadtgrenze zu Vermenton. Mit der Idee, die Kieselerde durch zerkleinertes weisses Altglas zu ersetzen und durch die Zugabe des in der Gegend vorhandenen, hochwertig Tones und zusätzlichem Blei, senkten die Jungunternehmer die Brenntemperatur und somit die Betriebskosten. Sie begannen mit der Massenproduktion.
Der Zufall wollte es, dass der Grossvater des einen Jungunternehmers zu den Lieferanten des grössten Couturiers dieser Zeit, Christian Dior, gehörte. Diesem gefielen die Muster und es kam zu einer ersten grösseren Lieferung.
Kurze Zeit später wurde ein erster Verkaufsladen mit einer Tankstelle an der stark befahrenen Nationalstrasse A6 eröffnet, eine grosse gelbe Keramikkanne machte dafür Werbung. Viele weitere solcher Tankstellen mit Verkaufsläden wurden an den verschiedenen Nationalstrassen eröffnet. Die Produkte fanden reissenden Absatz und die Palette an Keramikprodukten wurde stark ausgeweitet – die Keramik von Accolay war nun im ganzen Land berühmt, das Geschäft florierte und es wurden viele Arbeiter beschäftigt.
1968 kam es zur erste Krise, denn die grossen Verkehrsströme verändern sich zu Gunsten der neuerstellten, meist privaten Autobahnen. Dort war man aber weder mit Tankstellen noch mit Verkaufsläden vertreten. Die Ölkrise und damit der Rückgang des Autoverkehrs, der sparsamere Kraftstoffverbrauch der Autos und die Ausrichtung der Tankstellen-Shops auf die ländlichen Gegenden der Nationalstrassen verstärkten den Misserfolg. Eine Änderung in der Modewelt – die Farbe und der Humor der Knöpfe, Buttons und Anstecker verschwindet – erledigte dann den Rest. 1989 wurde die Produktion eingestellt.
So tragen der technische Forstschritt, die Konzentration der grossen Märkte auf wenige Ballungszentren und veränderte Lebensbedingungen vielerorts dazu bei, dass der Anschluss an die veränderten Voraussetzungen oft nicht gelingt. Und es der Landbevölkerung schleichend zunehmend schlechter geht.
Doch der Teufelskreis von Niedergang und Abwanderung hatte für das Städtchen Vermenton schon längst früher begonnen, das zeigen auch die Bevölkerungszahlen recht eindrücklich:
1543 leben 2300 Einwohner in Vermenton, 1869 sind es gar 2500 Einwohner, im Jahr 1900 noch 2150 Einwohner, 1962 waren noch 1400 Personen in Vermenton gemeldet und 2010, bei der letzten Volkszählung, waren trotz Eingemeindungen nur noch 1182 Einwohner in Vermenton wohnhaft.
Die Zukunftsaussichten:
Es gibt aber auch durchaus positive Zukunftsperspektiven für Vermenton:
Der Jakobs-Pilgerweg von Trier nach Roncesvalles in Spanien, die Überbleibsel der ehemaligen Zisterzienserabtei „Reigny“ mit ihrem kulturellen und gastronomischen Angebot, der gutgeführte Campingplatz mit seinen schönen Blumenbeeten, der bereits mehrere Auszeichnungen bekommen hat, die Hausboot-Vermietungen im Hafen des Canal du Nivernais oder das angrenzende nationale Naturschutzgebiet, geben doch Hoffnung auf einen allgemein wieder aufblühende Tourismus in der Region. Aber auch die Handelstätigkeiten eines Marktfleckens, die kommunale und regionale Geschäftigkeit einer kantonalen Verwaltungsstadt und der gut sortierte Supermarkt bringen Kunden ins Dorf. Genau wie auch das neue regionale Gesundheitszentrum – ein hypermoderner Bau mit drei Allgemeinmedizinern, einem Zahnarzt und Kieferchirurgen, zwei Physiotherapeuten sowie einer Pflegestation, der in unmittelbarer Nähe zum Altersheim vor kurzem eröffnet wurde. Mit ihm schliesst sich auch der Kreis zum gesundheitlichen Angebot des Klosters im 14. Jahrhundert.
Und zum Aufbruch in die Zukunft passt doch auch die neue, gediegene Strassenbeleuchtung des Ortes, damit Vermenton in neuem Glanz erstrahle, vorläufig wenigstens nachts.
:)
2 Kommentare :
Intressant deine Recherchen :-) leider tun die Franzosen sehr wenig für die Touristen. So jedenfalls meine Erfahrung was die Schiffbarkeit auf den Kanälen betrifft (schlecht unterhaltene Kanäle, Höhen und Tiefenangaben welche nicht stimmen etc etc)...da könnte man echt was rausholen! Meine Erfahrung mit den Franzosen: sie haben wenig Ideen und die Kanäle sind in erster Linie zum fischen da. Irgendwann haben sie dann auch keine Mietböötler mehr. Einkaufs-Möglichkeiten den Kanälen entlang sind sehr sehr rar und Auto hat man eben keines dabei um in die grossen, modernen Supermärkte fahren zu können. Die Hafenanlagen schlecht gewartet um nicht zu sagen sehr marode....schade um die verlorenen Einnahmequellen- bei soo vielen Arbeitslosen!
T.O.&O.
Du hast recht, liebe T.O.&O.
Auch auf unserer Reise haben wir oft gesehen, dass ausser in den grossen, kommerziellen Touristenorten sehr wenig für den Tourismus gemacht wird. Wirklich schade, denn dieses Land hat für jeden soviel zu bieten. Aber es fehlen oft die Hinweise und Informationen und manchmal glaube ich, es fehlt einfach auch am Willen, etwas selber zu Verändern und zu "Bewegen". Man wartet vermutlich auf die Hilfe des zentralistischen Staates.
Dabei liegt doch, wie so oft, das Geld wortwörtlich "auf der Strasse".
Vielen Dank für Deinen Kommentar und liebe Grüsse
Re
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