Gedanken(k)reise
**..*..* des Herrn Oter *..*..**
(Halt einfach nur ein Mann ....)
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Sonntag, 25. September 2016
Unsere Wahrnehmung
Unsere Wahrnehmung
Marina arbeitet bei der Spitex, dem ambulanten Pflegedienst der Gemeinde. Sie macht diese abwechslungsreiche Arbeit mit viel Freude. Seit kurzer Zeit betreut sie auch Frau Müller, die ihr neu zugeteilt wurde. Sie wohnt in einer hübschen kleinen Wohnung und ist nach dem Besuch beim mürrischen Herr Bianchi an der Reihe.
Doch immer, wenn Marina Frau Müllers Wohnung betritt, fühlt sie sich etwas unwohl. Marina kann sich das gar nicht erklären, denn Frau Müller ist eigentlich netter als Herr Bianchi. Nach einiger Zeit stellt Marina sogar fest, dass sie inzwischen sehr ungern zu Frau Müller geht und beim Besuch der alten Dame zunehmend ein mulmiges Gefühl hat. Zuerst macht sie sich Vorwürfe deswegen, dann versucht sie herauszufinden, was sie an Frau Müller so stört. Achtsam beobachtet sie darum ihre Gefühle und Emotionen, sobald sie sich vom einsamen Herr Bianchi mit einem nachsehenden Lächeln verabschiedet hat. Nach kurzer Zeit nimmt Marina wahr, dass der Geruch in der Wohnung der Auslöser für ihr unangenehmes Gefühl im Kontakt mit Frau Müller ist. Es riecht bei ihr sehr oft nach Kohl und diesen Geruch kann sie seit ihrer Kindheit kaum ertragen. Denn genau so hat es aus der Wohnung der alten Weber gerochen, die Marina als Kind sehr gefürchtet hat, weil sie ständig etwas zu reklamieren hatte.
Sobald Marina diese Wahrnehmung gemacht hat, kann sie ihre Gefühle einordnen.
Sie wird sich bewusst, dass sie lieber zum mürrischen Herrn Pestalozzi geht, weil es bei ihm an der Wohnungstür immer nach frisch gekochtem Kaffee riecht.
Sie weiss nun aber auch, dass ihre negativen Gefühle beim Betreten des Hauses von Frau Müller nichts mit dieser Kundin zu tun haben und, dass sie selber ganz alleine dafür verantwortlich ist.
Wahrnehmung:
Wahrnehmung ist die Aufnahme von Informationen und findet laufend über alle unsere fünf Sinne statt.
Wir sehen, hören, riechen, schmecken und ertasten ständig, darum ist die Zahl dieser Informationen immens.
Aber nur einen winzigen Bruchteil der vorhandenen Informationen nehmen wir tatsächlich auch wahr. Denn wir filtern die unzähligen Reize und Eindrücke, denen wir ständig ausgesetzt sind.
Wir wählen diejenigen aus, die für uns wichtig sind oder uns gerade interessieren. Aber auch das Neue, Ungewohnte oder Andersartige nehmen wir meist bewusster wahr, als das Gewohnte und das Übliche.
Meistens geschieht diese Auswahl unbewusst, unreflektiert und wird auch unbewusst verarbeitet.
Daraus ergibt sich oft ein bestimmtes oder unbestimmte Gefühl.
Was wir wahrnehmen, basiert auf unseren Erfahrungen, Einstellungen und Motiven. Aber auch unsere aktuellen Gedanken und Umstände sind massgebend. Dabei spielt die momentane Aufmerksamkeit, Konzentration und besonders die emotionale Verfassung eine wichtige Rolle. Freude, Trauer, Aufregung, Ärger, Wut, Gleichgültigkeit oder Überforderung, alle eigenen Gefühle und Befindlichkeiten können dazu beitragen, dass Reize sofort wahrgenommen werden oder kaum ins Bewusstsein vordringen.
Wahrnehmung erfordert darum Achtsamkeit.
Achtsamkeit bedeutet, sich innerlich auf seine aktuelle Umgebung und Situation einzustellen und zu konzentrieren, auch wenn starke Emotionen oder Einflüsse von aussen die bewusste Wahrnehmung beeinträchtigen.
Eine bewusste Wahrnehmung kann man trainieren. Anfangs können Achtsamkeitsübungen hilfreich sein, später genügt es, sich einfach mehrmals täglich die bewusste Wahrnehmung wieder ins Gedächtnis zu rufen.
Unsere Welt besteht also aus dem, was wir selektionieren und dann wahrnehmen. Und so individuell diese Wahrnehmungsbilder jedes einzelnen sind, so individuell entwickelt sich jeder Mensch, denn jeder lebt sozusagen in seiner eigenen Welt. Diesen Weltbildern vertrauen wir – Bildern von liebevollen und schmerzhaften Erfahrungen, von Sprungbrettern und Stolpersteinen, von Höhenflügen und Peinlichkeiten, von Erfolgen und Misserfolgen oder dem Glück und den Ängsten aus längst Vergangenem.
Für jeden von uns ist sein Weltbild – das heisst: seine Sicht der Dinge – das wirklich Wahre.
Das gilt es bei Konflikten zu berücksichtigen. Denn tatsächlich existiert nicht ein einziges richtiges Bild oder eine einzige Wahrheit, wie Probleme gelöst werden können.
:)
Sonntag, 4. September 2016
Der Nachrichten-Tsunami
Der Nachrichten-Tsunami
Den täglichen Nachrichten über Terror, Krieg und Gräueltaten kann sich im Moment wohl kaum jemand entziehen. Sie kommen nicht mehr in Wellen, sie überfluten uns wie ein Tsunami. Während andernorts Bomben fallen, werden wir augenblicklich mit den entsprechenden Bildern und Nachrichten bombardiert. Unaufhörlich! Und sie werden immer grausamer, unerträglicher und belastender – die Bombardemente, die Bilder und die Nachrichten dazu. So empfinde ich es jedenfalls. Ich kann das Ganze kaum mehr verarbeiten, ich bin mit der Nachrichtenflut überfordert! Aber wie kann ich mich dem Tsunami entziehen?
Einfach keine Info-Sendungen mehr ansehen, keine Nachrichten mehr anhören, keine Zeitungen mehr lesen, Twitter einfach löschen?
Als politisch interessierter Mensch geht das nicht so einfach. Ich möchte ja wissen, was sich hierzulande tut, wie sich die Schweiz entwickelt, welche Probleme hier gelöst werden sollten und wie wir unseren innerstaatlichen Frieden möglichst erhalten können. Denn die nächsten Abstimmungen kommen bald und da will ich nicht anhand von Parolen, sondern mit fundiertem Wissen daran teilnehmen.
„Lass alles nicht so an dich heran”, rät man mir.
Sicher gut gemeint, jedoch für mich nicht praktikabel. Ich habe keinen Panzer, sondern bloss eine Haut und die ist in der letzten Zeit dünner und verletzlicher geworden, das gebe ich zu.
Es steht schlimm um die Welt! Überall Krieg, Terror, Unterdrückung, Attentate und unvorstellbares Leid. War es früher anders oder haben wir vieles davon einfach nicht mitbekommen?
Man hat auch das Gefühl, dass es nicht nur immer schlimmer und mehr wird, man denkt, dass es auch immer näher kommt. Aber stimmt das wirklich?
In den 70er- bis 90er-Jahren töteten meist europäische Terrorzellen jährlich 100 bis 400 Menschen in Europa. Haben wir das schon vergessen? An einen Terroranschlag in der Schweiz kann sich vermutlich kaum noch jemand erinnern. Auch die Morde gehen seit 30 Jahren ständig zurück – von 110 im Jahr 1990 auf 46 im Jahr 2014. Die Schweiz steht somit weltweit an der 208. Stelle von den 218 erfassten Länder (Wikipedia)
Mir geht es also gut hier. Ich lebe in einem sicheren und friedlichen Land, mit einer Regierung die ich selbst mitwählen konnte. Ich wohne in einer schönen Wohnung, mit Nachbarn die mich respektieren. Ich habe jeden Tag genug zu Essen, das ich mir gut leisten kann und ich habe sauberes Trinkwasser, das sogar direkt aus dem Wasserhahnen kommt. Dafür bin ich dankbar.
Doch manchmal habe ich fast ein schlechtes Gewissen. Denn obschon ich bewusst eher bescheiden leben, lebe ich im Verhältnis zum grössten Teil der Weltbevölkerung im Luxus - und bin mir das meistens gar nicht bewusst. Habe ich das verdient oder anders gefragt, was ist mein Verdienst an diesem privilegierten Leben? „Nichts”, müsste ich antworten, ich wurde einfach in dieses Land geboren. Glück gehabt!
Also müssten mich die schrecklichen Bilder aus den Kriegs- und Krisengebieten glücklich und zufrieden machen. Doch das tun sie nicht.
Das Flüchtlingselend, das sich inzwischen zu einer richtigen Völkerwanderung entwickelt hat, geht mir immer mehr zu Herzen. Sechzig Millionen Menschen, vertrieben, entwurzelt, entzweit. Sie verlieren ihre Heimat, ihre Familie und leider oft auch ihre Hoffnung. Aber was geht das mich an? Die haben doch einfach Pech gehabt, dass sie nicht hier geboren wurden – oder?
Und was sollen wir denn tun – Geld spenden, Flüchtlinge im Haus aufnehmen oder gar hinfliegen und für Frieden sorgen?
Ich verstehe, dass nicht alle, denen es schlechter geht, zu uns kommen können. Ich weiss auch, dass wir heute die vielen schweren Fehler, die der Westen als Kolonialmächte und Kriegstreiber in der Vergangenheit gemacht haben nicht so schnell ausbügeln können. Ich bin mir auch bewusst, dass viel von unserem Reichtum aufgrund von Ausbeutung, gerade in diesen Flüchtlings-Ländern, zustande kam.
Vielleicht machen mir gerade darum diese Nachrichten immer mehr Angst. Ich frage mich, wo führt das alles hin? Gibt es einen neuen Weltkrieg oder holen die, die nichts haben, einfach das zurück, was wir ihnen genommen und jetzt zu viel haben? Ausgleichende Gerechtigkeit?
Das Dilemma ist doch, dass ich an der ganzen Situation nichts ändern kann. Darum sehe ich nicht ein, warum ich über jeden Toten auf dieser Welt informiert sein muss. Warum muss ich mir jedes Attentat mehrmals in den verschiedenen Nachrichten und Meldungen ansehen, anhören und lesen. Das ist doch nur Benzin ins Feuer geschüttet und Antrieb für diese Gruppierungen. Nachahmer werden ermutigt, Sympathisanten bestätigt, Fanatiker gezüchtet.
Ich will diesen Meldungen gar nicht mehr diesen Raum geben. Ich will nicht mehr wissen, was auf der ganzen Welt gerade an Schrecklichem passiert. Ich will nicht mehr über Dinge informiert werden, die mich nicht beeinflussen, sondern nur berühren. Ich will nichts mehr über die Sachen vernehmen, die ich sowieso nicht beeinflussen kann. Ich will auch nichts mehr über Politiker oder Machthaber hören, die ich nicht gewählt habe, die ich nie wählen würde und die ich trotzdem nicht abwählen kann.
Ich will nicht mehr - ich will weniger!
Denn ich glaube, solange jeder immer mehr will – solange Geld und Besitz diese Macht besitzt und Macht und Ruhm so verführerisch ist, solange wird es Neid und Missgunst geben. Solange jeder denkt, dass der andere mehr habe, dass andere es besser hätten und, dass er besser sei als der andere, solange gibt es kein friedliches Miteinander auf dieser Erde und solange werden die News-Spalten mit Horror gefüllt werden.
:\
Sonntag, 5. Juni 2016
Der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten
Der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten
Immer wieder werden neue digitale Angebote heftig diskutiert.
Im Moment ist es unter anderem der Vermittlungsdienst Uber, der die Taxi-Branche revolutionieren will oder auch die Internet-Plattform Airbnb, die die Hotelbranche durch Angebote privater Vermieter vor allem in den Städten stark herausfordert.
Bei beiden Online-Angeboten erwägt der Bund ein gesetzliche Regulierung oder gar ein Verbot. Aus meiner Sicht ist das falsch, denn der Fortschritt lässt sich nicht aufzuhalten! Das war schon immer so.
Wissenschaft und Technik haben uns in den letzten Jahrhunderten eine epochale Entwicklung gebracht. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Geschichte von der Gotthard-Kutsche hin zum in dieser Woche eingeweihten Gotthard-Basistunnel – eine wahre Meisterleistung staatlicher Weitsicht, unternehmerischen Denkens und intelligenten Handelns.
Von der Pferdestärke über die Dampfmaschine bis hin zur Elektrizität, der technische Fortschritt setzte auch eine 'Industrielle Revolution' in Gang, von der die Menschheit in überwiegendem Masse profitierte.
Als Beispiel nenne ich hier den Quantensprung von den handbetriebenen Webeinrichtungen des 18. Jahrhunderts über die ersten funktionsfähigen mechanischen Webstühle des Engländers Edmund Cartwright bis hin zur heute weltweit schnellsten Webmaschine der Welt, der Mehrphasenwebmaschine M8300 von Sulzer-Textil.
Dieser Erfindergeist brachte der Schweiz durch Innovation und Mut einen grossen Wohlstand und weltweiten Erfolg. Sie zeigt aber auch explizit die dunklen Seiten der technischen Entwicklung. Die Textilfabriken brachten zwar Arbeit und Wohlstand in die Ostschweiz, aber durch die Produktionsverlagerungen in Ausland auch wieder Arbeitslosigkeit und materielles Leid. Anderseits profitieren wir wieder, wegen der menschenverachtenden Ausbeutung von Arbeitskräften in Asien, durch die billige Kleidung. Welches ist nun der Fortschritt?
Auch die 'Digitale Revolution' wird die Welt auf den Kopfstellen, genau so wie es die Industrielle tat. Und, auch sie wird sich durch nichts aufhalten lassen. Elektronische Prozesse und Automatisierungen, aber auch künstliche Intelligenzen und Robotik werden unsere Arbeit und den Alltag entscheidend verändern. In wenigen Jahrzehnten werden selbstfahrende Fahrzeuge, helfende Roboter und menschenlose Arbeitsplätze weitgehend Alltag sein. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Hälfte der heutigen Jobs verschwinden werden. Daran können auch Verhinderungsgesetze oder Verbote nichts ändern.
Doch seit der Erfindung der Dampfmaschine ist das ständig so und die Menschen haben trotz der Automatisierung immer wieder Jobs gefunden. Wir sollten einfach aus den Fehlern der Industrialisierung lernen und sie nicht wiederholen.
So muss bereits jetzt unsere gesamte Ausbildung angepasst werden. In Zukunft werden Kreativität und soziale Kompetenzen gefragt sein. Das Auswendiglernen von allgemeinem Wissen, von Formeln, Daten und Zahlen wird nicht mehr benötigt. Dafür werden in Zukunft Visionen, Ideen, Überzeugungsarbeit, Teamarbeit, Führung, Motivation, aber auch Enthusiasmus, Empathie, Pflege und Rücksicht gefragt sein. Auch die gesamte Lebensgrundlage muss revolutioniert werden – ein ausgeklügeltes bedingungsloses Grundeinkommen wäre ein guter Ansatz dazu. Aber dafür müsste wiederum das Steuerwesen grundlegend umgekrempelt werden. Statt menschlicher Arbeit müssten Prozessoren und Gewinne besteuert werden und statt dem Einkommen müsste der Verbrauch abgabepflichtig sein (Mehrwertsteuer). Dazu müssten in der Übergangsphase durch Verordnungen die Spiesse für alle Beteiligten gleich lang gemacht werden. Auch müsste Wucher, also überrissene Gebühren und Kommissionen der online-Anbieter, genau so wie bei den Banken, beschränkt werden.
Der Entwicklung lässt sich nicht aufhalten, denn keiner will heute mehr zurück zum Lastenträger am Gotthard, zum Meldeläufer des Mittelalters oder nur schon zurück zur Telefonkabine als einzige Telekommunikationsmöglichkeit. Auch die Fortschritte in der Chemie und der Medizin will keiner mehr missen.
Aber man muss diese Veränderungen mit Weitsicht und Fingerspitzengefühl zum Wohle der gesamten Menschheit und erträglich für die Umwelt gestalten.
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Samstag, 7. Mai 2016
Fingerspitzengefühl
Fingerspitzengefühl
Etwas gelangweilt schlendere ich hinter der älteren Person her, die ich zum Einkaufen in den Supermarkt gefahren habe.
Da treffe ich unerwartet auf eine Frau aus Eritrea.
Wir kennen uns recht gut und die Begrüssung ist herzlich. Sie spricht ganz ordentlich Deutsch und so wechseln wir kurz ein paar Worte. Meine Begleitung ist währenddessen verschwunden.
Abra ist Mitte Fünfzig und vor vier Jahren in der Schweiz geflüchtet. Die nette Familie hat sich inzwischen hier gut eingelebt. Vor kurzem konnten sie auch vom zügigen Wohncontainer in eine helle, kleine Wohnung umziehen und Meng, ihr Mann, hat endlich eine Arbeit gefunden. Der gelernte Autospengler kann nun wenigstens an drei Tagen pro Woche bei einer Recyclingfirma arbeiten. Damit hat sich auch seine Psyche wieder stark verbessert.
Die älterste Tochter ist seit einigen Monaten mit einem Schweizer verheiratet, der ältere Sohn hat glücklicherweise eine Lehrstelle gefunden und die beiden Jüngsten gehen hier zur Schule. Die Kinder sprechen Schweizerdeutsch, sind in verschiedenen Vereinen und gut integriert.
Abra und ihr Mann haben mit dem Kontakt zu Einheimischen etwas mehr Mühe. In ihrem Alter ist das nicht mehr so einfach. Doch sie besuchen wöchentlich unser Integrationskaffee um mehr Einheimische kennen zu lernen. Denn auch sie freut es besonders, wenn sie auf der Strasse oder im Laden erkannt und wahrgenommen werden – dann fühlen sie sich hier ein bisschen mehr Zuhause.
Meng kommt auch jeden Donnerstag zu mir, um seine Deutschkenntnisse zu verbessern. Daraus ist inzwischen ein freundschaftlicher Kontakt entstanden und wir wurden von ihnen auch schon zum eritreischen Mittagessen oder zur traditionellen Kaffeezeremonie nach Hause eingeladen.
Einige Minuten später verabschiede ich mich wieder von Abra und sehe mich nach meiner Begleitung um. Ich treffe die bald Achtzigjährige hinter dem nächsten Gestell, wo sie ungeduldig wartet.
„Ich warte schon lange!”, zischt sie und funkelt mich ein bisschen böse an. Währenddessen schiebt sie ihren Einkaufswagen bereits eilig zur Kasse.
„Ach, da bist du … Warum bist du vorhin so plötzlich verschwunden? Wolltest du mit der dunkelhäutigen Frau nicht gesehen werden?”, frage ich scherzhaft, denn ich kenne ihre Einstellung zu 'den Asylanten'.
Nach einer Pause und einem unverständlichen Gemurmel fragt meine Begleitung unwirsch: „Was war denn die für eine?”
Ich muss lächeln: „Das ist die Frau des Eritreers, dem ich seit über einem Jahr jede Woche Deutsch gebe. Ich habe dir doch schon oft von ihm erzählt.”
Inzwischen sind die wenigen Einkäufe auf dem Kassenband gelandet und meine Begleiterin hat schon ungeduldig ihren Geldbeutel in der Hand.
Ohne sich umzublicken sagt sie:
„Ach, die war das – hätte ich das gewusst, hätte ich ihr zwanzig Franken gespendet …
:(
Freitag, 29. April 2016
Ben Sadok und die Palme…..
Ben Sadok und die Palme…..
Ben Sadok, ein finsterer Mann, ging durch eine Oase. Er war so bösartig in seinem Charakter, dass er nichts Gutes und Schönes sehen konnte, ohne es zu verderben.
Am Rande der Oase stand eine junge Palme. Sie war schön gewachsen. Das ärgerte Ben Sadok. Darum nahm er einen schweren Stein und legte ihn der jungen Palme mitten in die Krone. Mit einem gemeinen Lachen ging er fort.
Die Palme schüttelte und bog sich und versuchte, die Last abzuwerfen.
Doch vergebens. Zu fest sass der Stein in ihrer Krone. Da krallte sich die Palme fest in den Boden, schickte ihre Wurzeln so tief in die Erde, dass sie die verborgenen Wasseradern in der Oase erreichten, wuchs empor und stemmte dabei mit aller Kraft den schweren Stein hoch und höher,
bis die Krone mit den grossen Palmenfächern über jeden Schatten hinausreichte.
Wasser aus der Tiefe und Sonnenglut aus der Höhe halfen dem jungen Baum, trotz seiner schweren Last eine königliche Palme zu werden.
Nach vielen Jahren kam Ben Sadok wieder. Schadenfroh wollte er
den verkrüppelten Baum sehen, den er, wie er meinte, verdorben hatte. Er suchte ihn, aber er fand ihn nicht. Da senkte die stolzeste und höchste aller Palmen ihre Krone, zeigte ihm den Stein und sagte:
Ich danke dir, Ben Sadok. Deine Last hat mich stark gemacht.
Ein afrikanisches Märchen - Autor unbekannt
;)
Sonntag, 24. April 2016
Theo
Theo
Alle haben sie gelacht!
Und wiederum hat er den Stammtisch fast im Alleingang unterhalten. Eine Anekdote nach der anderen – ihr schallendes Gelächter hat ihn zusätzlich angespornt. Heute Abend war er einmal mehr in Bestform.
Seine Sprüche kamen präzise und sein Intellekt arbeitete blitzschnell. Schlagfertig konterte er alle Bemerkungen und setzte so jeweils noch einen drauf – bis sie vor Lachen Tränen in den Augen hatten.
Trotzdem, niemanden am Tisch hat er gekränkt, denn Theo macht keine abwertenden Sprüche über andere. Wenn schon nimmt er sich selber auf den Arm, stilisierte sich hoch zu einer Witzfigur.
Gerade dann bekommt er am meisten Anerkennung. Dann ist er jemand! Man nimmt ihn wahr – doch keiner nimmt ihn ernst. Manch einer hat ihm zum Abschied anerkennend auf die Schultern geklopft. „Theo, du bisch eifach en glatte Siech,” und alle haben anerkennend genickt.
Aber was wissen die schon? Was wissen die von Theo! Keiner kennt ihn wirklich. Keiner sieht sein Inneres, keiner weiss von seinen Schmerz.
Nun ist er auf dem Heimweg – alleine.
Noch ein paar Gedanken an die vergangenen zwei Stunden. Er möchte sie für immer festhalten, denn sie haben ihm kurzfristige Linderung gebracht. Aber die quälende Einsamkeit und die Angst sind schnell wieder da.
Noch ein kurzes Lächeln der Erinnerung und dann ist nur noch Leere.
Mehr über Einsamkeit hier
:(
Dienstag, 19. April 2016
Ich wollte nie Lokomotivführer werden
Ich wollte nie Lokomotivführer werden
Als Kind wollte ich nie, wie die anderen, ein Pilot, Lokomotivführer, Fussball-Profi oder Polizist werden. Ich wollte ein Senn sein! Der Stallgeruch hatte es mir angetan.
Natürlich lag ich auch damit wieder 'verkehrt'. Denn in unserer Familie gab es weder einen Stall, noch war jemand in der Verwandtschaft ein Bauer. Vermutlich gibt es sogar in unserem ganzen Stammbaum, seit unseren Walser-Vorfahren, kaum noch Alphirten oder Sennen.
Aber auf meinem Schulweg lagen drei Bauernbetriebe und besonders den von Bauer Hartmann besuchte ich täglich mehrmals. Ich kannte jede Kuh im Stall – es gab zwar nicht viele, aber ich war über jedes Geschehen im Stall immer bestens informiert. So dauerte mein Schulweg halt meistens auch einiges länger, als bei meinen Brüdern. War eine krank oder kam bald ein Kalb zur Welt, konnte es auch einmal noch etwas später werden. Das gab dann einigen Ärger, besonders in der Schule und manchmal halt auch Zuhause, wenn ich es übertrieb. Aber das Leben im Stall war für mich einfach spannender, als die blöde Schule und die lästigen Hausaufgaben.
Dafür hatte ich dann Zuhause, als Entschuldigung sozusagen, immer etwas Spannendes zu erzählen.
Besonders meine Mutter war, nachdem der erste Ärger abgeflaut war, an meinen Erzählungen aus dem Stall durchaus interessiert, denn sie war in der Stadt aufgewachsen. So hätte sie, erzählte sie später manchmal, auch interessiert meinem atemlos vorgetragenen Bericht über die Geburt eines Kalbes zugehört. Blöd sei nur gewesen, dass just in dem Moment, als es richtig spannend wurde und „da hinten bei der Kuh etwas herausgekommen“ sei, Bauer Hartmann zu mir gesagt hätte, es wäre nun wohl besser, wenn ich nach Hause gehen würde.
Doch in so einem Stall erfuhr man natürlich nicht nur Stallgeschichten, da war durchaus das halbe Dorfgeschehen ein Thema und ich, als aufmerksamer Zuhörer, brachte diese Neuigkeiten dann nach Hause. Damit konnte ich glänzen, im Gegensatz zu meinen schulischen Leistungen.
Schon bald hatte mein Vater für mich einen scherzhaften Übernamen gefunden: 'Early Bird' – den Namen des ersten kommerziellen geostationären Fernsehsatelliten weltweit, der damals ins All befördert wurde. Dieser 'Early Bird' konnte sagenhafte 240 Telefongespräche oder eine Fernsehsendung von weither übertragen und war damit der Beginn der internationalen Telekommunikation.
Damals, im Gegensatz zu heute, war es nicht üblich, volkstümliche Musik im Stall abzuspielen, damit die Kühe sich wohler fühlten und mehr Milch gaben. Trotzdem war ich ganz begeistert von 'Ländlermusik' und Jodel-Gesang. Natürlich wieder als einziger in der Familie. So war dann auch meine erste eigene Schallplatte aus dieser volkstümlichen Musiksparte. Diese kleine schwarze Vinil-Scheibe, ich hatte sie geschenkt bekommen, enthielt vier Jodellieder, komponiert vom „Holzgüetler“ Siegfried Zihlmann-Steffen und gesungen von der Älplerjodlergruppe Zihlmann aus Schüpfheim.
Ein Lied darauf hiess 'Du Allerwelts Schätzeli', ein anderes 'z’Flüeli Dörfli'. Es beschreibt ein kleines Örtchen im von mir damals weit entfernten Entlebuch. Ich habe diese beiden Lied bestimmt einige hundertmal abgespielt und noch heute, nachdem ich sie Jahrzehnte nicht mehr gehört habe, erzeugten sie bei mir noch immer die gleichen Empfindungen wie damals. (Hier eine Coverversion)
Einige Jahre später habe ich dann, weit ab von Zuhause, in einer grossen Stadt, ein nettes 'Mädchen' aus genau diesem 'Flüeli Dörfli’ getroffen. Sie blieb während dreissig Jahren meine Partnerin …
Zufall oder Vorhersehung?
Um eine 45er Vinylschallplatte und eine Kindererinnerung geht es auch in einer früheren Anekdote
:)
Sonntag, 17. April 2016
Ich küsse nicht gerne
Ich küsse nicht gerne
Ich mag sie einfach nicht – diese imaginären Luftküsse, links und rechts, knapp an den Ohren vorbei, zur Begrüssung oder zum Abschied. Wange an Wange mit Frauen, die ich kaum kenne, das ist mir einfach zu nahe, zu eng und zu intim. Ich finde es ehrlicher, sich anständig die Hand zu geben und in die Augen zu sehen. Denn in den Augen des Gegenüber, erkenne ich mehr, als an seinen Ohrläppchen.
Aber vielleicht ist die Abneigung gegen diese Begrüssungs-Küsserei auch einfach ein Trauma aus Kindertagen … (hier: Loni - ein Albtraum)
Nicht, dass ihr jetzt denkt, ich sei ein genereller Kussmuffel!
Nein – aber ich bevorzuge für solche 'Lippenbekenntnisse' einfach die richtige Person und die passende Situation. Ich küsse nicht jede zur Begrüssung und umarme schon gar nicht jeden, auch wenn sich das unter Männern immer mehr verbreitet. Ich habe nichts gegen eine Umarmung zwischen Vater und Sohn als Zeichen von Verbundenheit und Respekt; obschon, bei meinem Vater hätte ich das nie gemacht. Das war damals bei uns einfach nicht üblich.
Mir ist es unangenehm, wenn ich von Personen geküsst und umarmt werde, die ich noch nicht lange kenne oder die mir eigentlich gar nicht sonderlich sympathisch sind.
Doch wie mache ich das in einer Gruppe? Da müsste ich ja eine Auswahl treffen. Das geht natürlich nicht – entweder alle oder keine. Ich habe mich für keine entschieden.
Doch das kommt nicht immer gut an und so trete ich bei weiblichen Kuss-Fans manchmal ins Fettnäpfchen. Sie will, ich nicht!
So einmal geschehen bei einer Arbeitskollegin, die in einer ganzen Gruppe von mir fremden Frauen stand. Meine Kollegin und ich hatten uns bei der Arbeit noch nie zur Begrüssung geküsst, nicht einmal die Hand gegeben. Aber an dem Tag … ich hielt natürlich bei allen eine Armlänge Distanz, auch bei Ihr, wie immer.
Die Reaktion kam am nächsten Arbeitstag: „Du hast mich vor den Anderen schön blamiert!” funkelte sie mich böse an. „Aber wir hatten doch bisher noch nie …” meinte ich etwas verlegen. „Ja schon, aber heute ist das eben üblich – ich stand vor meinen Kolleginnen da wie ein Depp!”, giftelte sie mich an.
Seit diesem Vorfall bin ich mit dem Begrüssungskuss etwas 'grosszügiger’ geworden – wenn es sich gar nicht vermeiden lässt – denn ich will ja niemanden kränken.
Doch noch immer gehe ich erstmal mit ausgestrecktem Arm auf die Leute zu, um den Abstand zum Gegenüber zu steuern. Doch nicht selten treffe ich dann auf Frauen, die das Küsschen-Ritual regelrecht einfordern. So stehe ich dann steif da und lasse mich zum Ritual hin und her zerren.
Scheinbar muss ich diese Menschen ans Herz drücken, auch wenn mir das unangenehm ist. Oder habe ich als Mann eine faire Chance diese Begrüssungsform zu vermeiden, ohne die Frauen zu verletzen?
Diese 'gesellschaftliche Küsserei' auf die Wangen ist, zumindest bei uns, ja nicht althergebracht oder kulturell begründet.
Zwar kennt man den gehauchten Wangenkuss bereits seit frühchristlicher Zeit – als 'Friedenskuss', dem Zeichen einer vollständigen Versöhnung und Freundschaft.
Auch der Wangenkuss mit darauffolgendem festem Schmatzer auf den Mund, von Mann zu Mann, der sogenannte 'Bruderkuss', hat Tradition und war vor allem in der sozialistisch Zeit der Sowjetunion bei uns bekannt, denn es war die höchste Ehrerbietung unter befreundeten Staatsmännern. Sicher erinnert man sich noch an den Berühmtesten unter ihnen, Honecker und Breschnew, zwei alte, graue und faltige Männer, die die Lippen aufeinander drücken. Für mich schwer zu ertragen, sogar als Bild auf der Berliner Mauer.
Daraufhin wurden Umarmungen und Küsschen unter scheinbar befreundeten Politikern als politische Machtdemonstration auch andernorts immer häufiger. Doch waren das immer wirkliche Freunde?
Umarmungen zur Begrüssung zwischen Männern oder zwischen Frauen haben vor allem in der arabisch-muslimischen Welt eine lange Tradition. Doch öffentliche Berührungen zwischen den Geschlechtern, wie bei uns, sind dort vielerorts sogar verboten.
Diese Begrüssungsformen kennt man bei uns eher von südlichen Ländern. Auch in Frankreich hat diese Form von Umarmung mit Küsschen, die sogenannte Akkolade, Tradition, während bei uns noch lange und bis noch vor wenigen Jahrzehnten der Handkuss als korrekter, sehr formaler Gruss galt. Es war die allgemein übliche Ehrerbietung an eine geachtete Dame. Bis dann diese bacio- bacio -Welle aus den südlichen Ländern zu uns herüber schwappte.
Zuerst, so meine ich, bei der 'Prominenz’, und dort besonders bei den Schauspielerinnen. Da wollte man vermutlich grosse Herzlichkeit demonstrieren, obschon man doch weiss, dass kaum woanders, Neid und Missgunst weiter verbreitet sind.
Inzwischen gehört, was früher dieser 'Glamourwelt' vorbehalten blieb, auch bei uns 'Normalen’ schon fast zum guten Ton.
Küsschen da, Küsschen dort, Küsschen … – ja wie oft denn eigentlich?
Denn man küsst sich nicht überall gleichviel.
In Japan, beispielsweise, ist eine Umarmung unter Erwachsenen verpönt. Auch in Schweden küsst man gar nicht – wenigstens nicht zur Begrüssung. In Deutschland, Italien und Österreich macht man es meist zweimal und in der Schweiz gibt man sich gar drei Backen-Schmatzer (hier muss man aber auch alles übertreiben …).
Nur in Paris küsst man mehr, nämlich sogar viermal! – Aber Achtung im Resten Frankreichs macht man es wieder nur zweimal – das heisst – man braucht im westlichen Nachbarland fast eine Landkarte um sich über die obligatorische Anzahl der “bises” in 'La Grande Nation' zu informieren: eines in der Bretagne, zwei in Lyon, drei im Midi, vier südlich von Nantes und sogar fünf in einigen Binnenregionen von Korsika.
Und, man küsst sich nicht überall gleich.
Da gibt es Regeln zu beobachten, sonst entstehen peinliche Situationen – entweder du hängst mit deinen Lippen plötzlich verloren in der Luft oder es gibt einen Zusammenstoss der Nasen oder schlimmer noch, ein verrutschter Kuss landet direkt auf dem Mund und du stehst dann da wie ein begossener Pudel.
Also, erst rechts, dann links, so ist es bei uns. Aber schon in Frankreich wird es kompliziert, denn dort fängt man im Süden mit der linken und im Norden mit der rechten Wange an.
Und, was manche vielleicht nicht wissen: Auch bei uns gilt, je höher die soziale Stellung, desto weniger wird richtig geküsst. So einen herzhaften, geräuschvollen Schmatzer gibt man sich eher unter dicken Kolleginnen, in der 'feinen Gesellschaft' wird nur noch unhörbar gehaucht. Wichtig dabei ist, dass man die Lippen nicht spitzt.
Zum Schluss noch eine gute Nachricht für andere Begrüssungskuss-Muffel:
Unter Geschäftspartnern küsst und umarmt man sich strikte nicht! – Das ist mir sympathisch!
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Dienstag, 12. April 2016
Einfach nichts mehr da!
Einfach nichts mehr da!
Manchmal habe ich Angst, dass plötzlich nichts mehr da ist.
Unbemerkt schleicht es sich langsam davon und dann werde ich – vielleicht eines Morgens beim Aufwachen – erschrocken feststellen, dass alles weg ist!
Vermutlich bemerke ich es, weil ich mich wundere, wer neben mir liegt.
Kenne ich die? Gehört sie zu mir oder liegt sie zufälligerweise dort?
Ich weiss es nicht!
Nichts ist mehr da, mein Gedächtnis ist einfach verschwunden.
Damit sind auch all die schönen Momente in meinem Leben weg.
Die Kindheitserinnerungen, der erste Kuss, die Hochzeit oder das unbeschreibliche Glücksgefühl, als ich meine Buben das erste Mal in meinen Armen hielt.
All diese 'unvergesslichen' Glücksmomente sind einfach vergessen.
Keine Erinnerungen an die Eltern, an die Lebenspartnerinnen oder an all die anderen wichtigen Dinge in meinem Leben. Was war beruflich, wo war ich auf Reisen, was habe ich alles erlebt?
Keine Ahnung! Es ist einfach nichts mehr da.
Meine Eigenart, meine Identität, ja mein ganzes Leben ist einfach verschwunden.
Vorhin habe ich mich gefragt, ob es auch bei mir mal so kommt, wie damals bei meiner Mutter?
Ob auch bei mir einmal die Diagnose 'Alzheimer' lautet?
Aber eigentlich brauche ich mir deswegen doch gar keine Gedanken zu machen.
Denn in dem Moment, an dem ich mich an nichts mehr erinnern werde, werden nicht nur alle schönen Erlebnisse verschwunden sein, sondern auch die sorgenvollen Gedanken, die mich gerade beschäftigten.
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Sonntag, 10. April 2016
Problemlose Problemlösungen
Problemlose Problemlösungen
Täglich ein probiotisches Joghurt zur Traumfigur in zwei Wochen. Straffe Haut und jugendliches Aussehen bis ins hohe Alter dank einer Anti-Aging-Creme und weisse Raucher-Zähne über Nacht mit der Bleaching-Zahnpaste. Ein Pülverchen gegen Haarausfall und Po-Push-Up-Slips für einen Hintern wie der von Kim Kardashian. Eine Selfie-App für das perfekte Porträt im Online-Dating-Portal. Die blaue Pille davor gegen Potenzprobleme, die Pille danach gegen ungewollte Kinder. Brausetabletten gegen Müdigkeit und Lifestyle-Medikamente gegen Stress.
Fünfhundert Facebook-Freunde gegen Einsamkeit und eine populistische Parteien gegen Migrantenströme und Überfremdungsängste — so werden heute komplexe Probleme gelöst.
© Copyright by Herr Oter
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Samstag, 9. April 2016
Die Mücke wird zum Elefanten geschüttelt
Die Mücke wird zum Elefanten geschüttelt
oder wie Händeschütteln die Medien beschäftigt.
Ein Händedruck, oder eben die Verweigerung desselben, gibt in der Schweiz momentan viel zu reden.
Denn in Therwil wollen zwei pubertierende, muslimische Brüder ihrer Lehrerin partout die Hand nicht geben. Sie argumentieren religiös – einige islamische Rechtsschulen (z. B. die nach Imam Shafi'i) verbieten die Berührung einer fremden Frau. Angeblich verweigern sie sich selbstständig, weil die 14 und 15 Jahre alten Muslim-Buben in ihrem Kulturkreis als volljährig gelten.
Die Lehrerin fühlt sich ob des verschmähten Handschlags nicht zuletzt als Frau diskriminiert, und lässt sich das nicht bieten.
Dank einer Händedruck-Dispens der überforderten Schulbehörde, schütteln nun die beiden jugendlichen, offenbar sehr religiösen Syrer, die aber in der Schweiz aufgewachsen sind, weder die Hände der Lehrerinnen noch die der Lehrer, sondern grüssen alle mit einem mündlichen höflichen Gruss um damit eine Diskriminierung zwischen den Geschlechtern zu beseitigen.
Der ungeheuerliche Handstreich, der bereits im letzten November seinen Anfang nahm, wurde nun von einer pensionierten Lehrerin in einer TV-Sendung an die Öffentlichkeit gezerrt und hat landesweit einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Aber ob die ehemalige FDP-Kantonsrätin dieser Sache einen guten Dienst erwiesen hat, wage ich zu bezweifeln. Denn dieser verweigerte Handschlag schlägt nun hohe Wellen und schwappt zum Teil sogar über unsere Landesgrenzen hinaus.
Von «absolut inakzeptabel» über «im Koran gibt es kein Berührungsverbot in dem Sinne» oder «das entspreche dem Lebensstil des Propheten» bis zu «mehr Toleranz gegenüber Andersgläubigen» sind alle Meinungen von rechts bis links vertreten.
Eine Bundesrätin, zahlreiche Politiker aller Parteien, Vertreter von Lehrerverbänden und unzählige Kommentatoren in den Zeitungen und auf den sozialen Medien diskutieren nun über einen unbedeutenden Einzelfall und wieder benutzen nicht wenige diese Gelegenheit, um generell gegen Ausländer – und Muslime im Speziellen – zu stänkern.
Ich meine, es ist schlicht lächerlich, dass diesem Extremfall mit zwei Pudertierenden eine solch prominente Plattform geboten wird. Es führt höchstens dazu, dass diese läppische Geste wieder einmal instrumentalisiert wird und achtundneunzig Prozent der muslimischen Bevölkerung unter einen Generalverdacht gestellt werden.
Klar, es geht um mehr als einen einfachen Händedruck.
Es geht um Fragen wie Gleichstellung und Anstand, Respekt, und Frauenwürde – die christliche Frauenwürde, wohlverstanden. Denn niemanden interessiert in dieser Diskussion, was gläubige Muslimas empfinden, wenn christliche Männer ihnen unbedacht die Hand geben.
Ich habe mich bei drei somalischen Frauen erkundigt. Sie tragen farbige Kopftücher und zelebrieren den Ramadan nach strengen Regeln. Das ist ihnen wichtig. Weil sie hier wohnen, ergreifen sie jede ausgestreckte Hand, auch wenn sie sich dabei gar nicht wohl fühlen. Aber so seien hier die Regeln und sie passten sich an, sagen sie. Ich habe ihnen versprochen, sie weiterhin herzlich zu begrüssen, die meine Hände jedoch aus dem Spiel zu lassen. So, wie ich es zukünftig bei allen mit einem Kopftuch machen werde, den auch diese Frauen haben eine Frauenwürde!
Der Händedruck hat aber auch zu tun mit Religionsfreiheit, Fundamentalismus, Integration und der Anpassung der Zugezogenen an die Regeln eines anderen Kulturkreises in einem fortschrittlichen Land, das sie ja freiwillig als Wohnsitz gewählt haben. Denn wie wollen sich solch radikale Jugendliche hier integrieren, eine Lehrstelle finden oder später einmal wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen, wenn sie die hier herrschenden Anstandsregeln nicht beachten und die Frauen weder achten wollen, noch sie als ihre Vorgesetzten akzeptieren können? Ich meine, dann sind sie hier einfach am falschen Platz.
Aber auf ihrem 'Mist' alleine ist diese extreme Überzeugung, trotz angeblicher Volljährigkeit, vermutlich ja auch nicht gewachsen. Kein Kind will sich freiwillig so ausgrenzen. Diese Burschen haben bestimmt Unterstützung ihres Vaters erhalten, der teilzeitlich als Imam in einer Basler Moschee arbeitet und scheinbar ein radikales Verständnis des Islam lebt. Diese Moschee soll gemäss Medienberichten einer Stiftung gehören, die mit Geld aus Saudi-Arabien finanziert wird. Dementsprechend sollen dort auch vermehrt extreme Muslime aus dem arabischen Raum verkehren. Von einem der beiden Schüler wird zudem berichtet, dass er möglicherweise mit der Terror-Miliz 'Islamischer Staat' (IS) sympathisiert.
Solchen Radikalisierungstendenzen ist natürlich entschieden entgegenzutreten und aufkeimende Parallelgesellschaften sind mit allen Mitteln zu verhindern!
Ich frage mich dabei nur, warum hierzulande nicht auch Moscheen, gleich wie unsere Landeskirchen finanziert werden müssen und nur Imame zugelassen werden, die an einer hiesigen Universität ausgebildet wurden. Auch sollten alle Moscheen, natürlich ihren Gepflogenheiten entsprechend, für jedermann geöffnet sein und es müsste dort zwingend in einer der Landessprachen gepredigt werden, damit auch alle verstehen können, was dort gelehrt wird.
Ich musste als Kind nie einer Lehrerin (oder einem Lehrer) die Hand geben. Nicht einmal Fräulein R. Berger und sie war doch der Inbegriff von Korrektheit, Anstand und dem guten Umgang miteinander. Trotzdem war sie für uns eine Respektsperson, wie alle Lehrer damals. Denn schlussendlich fängt der Respekt im Hirn an, nicht bei der Hand. Wirklichen Respekt muss man sich erschaffen, der kann nicht erzwungen werden.
Auf der anderen Seite ist die Schule eine staatliche Institution und hat darum, aus meiner Sicht, konfessionell neutral zu sein. In der Schule wie im Staat, sollen die Regeln für alle gelten!
Klar, das Händeschütteln gehört zu unserer Kultur.
Heute wird es leider zu oft von der leidigen 'Luftküsserei' verdrängt. Wange an Wange – das mag ich nicht. Das ist mir zu nahe und auch zu viel – besonders hierzulande, wo man inzwischen sogar dreimal muss.
Da ist mir ein anständiger Händedruck schon lieber, wenn überhaupt. Denn auch den dürfen wir nicht überbewerten. 2008, zur Zeit der Schweinegrippe oder jährlich zur Grippesaison, empfiehlt sogar das Bundesamt für Gesundheit auf das Händeschütteln zu verzichten; ein kleines Nicken würde auch genügen. Da ging es doch auch ohne – vielleicht, weil es zu unserem Wohle war … ?
Hände sind schmutzig. WC-Türfallen, Automatentastaturen, Treppengeländer, Handgriffe oder Einkaufswagen – die Keime lauern überall und am liebsten werden Infektionen mit den Händen übertragen (zu 80 %).
Warum also geben wir uns noch immer die Hände?
Die beliebteste Erklärung ist: Wer die Hand ausstreckt, öffnet seine Deckung, verringert die Distanz und zeigt mit dem minimalen Körperkontakt seine gute Absicht.
Doch staatstragend oder kulturbewahrend ist das nicht.
Wir könnten doch auch die Nasen aneinanderreiben wie die Inuit. Oder uns tief verneigen, wie das 'Konnichiwa' der Japaner. Auch uns mit einer leichten Verbeugung einfach die Hände vor die Brust halten, wie das Namaste in Indien oder das 'Wai' in Thailand. Das wäre doch eine besonders schöne Begrüssung für eine Lehrerin. Aber eben, bereits diese kleine Verbeugung vor einer Frau, ist für diese beiden fundamentalistischen Jugendlichen scheinbar bereits ein Problem, denn damit müssten sie die Frau ehren und das wollen diese extremen Fundamentalisten eben nicht.
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Dienstag, 5. April 2016
Der letzte Blumenstrauss
Der letzte Blumenstrauss
Nun ist er nicht mehr.
Das geht nicht ganz spurlos an mir vorbei, denn ich mochte ihn.
Wir hatten uns gut verstanden - wir zwei 'Kleingewerbler’, wie er oft sagte. Obschon, klein war nur ich, er war grösser. Sein Produktionsbetrieb beschäftigte einige Mitarbeiter mehr.
Trotzdem fanden wir immer ein gemeinsames Thema: das 'Geschäften', die Strategien, die Werte, die schwierigen Umstände, das Loslassen und manchmal auch die Ehefrauen.
Seine verlor er früh an die Endlichkeit. Vielleicht schwärmte er darum so oft von ihr.
“Sie war halt eine ganz besonders Gute”, sagte er immer wieder. „En Chrampfchaib, weisch.” Familie, Geschäft, Freunde – alles habe sie unter einen Hut gebracht. Leider habe er das nicht immer genug geschätzt. Zu viel sei er gehässig, gestresst – manchmal auch überfordert und unsicher gewesen. „Wahrscheinlich deswegen war ich auch oft hart und unerbittlich.”
Aber es brauche vermutlich gewisse Eigenschaften um grossen Erfolg zu haben, doch die würden dann nicht immer gleichzeitig zu einem toleranten, verständnisvollen Ehemann passen.
Ich habe ihn verstanden. Wie so oft waren nur wenige Worte zwischen uns nötig, um ein ganzes Lebensgefühl zu beschreiben.
Später heiratete er dann nochmals – eine jüngere, besonders attraktive Blonde. Aber von ihr schwärmte er nie.
Ein richtiges Mauerblümchen sei sie damals gewesen, haben mir andere erzählt, schüchtern, gehemmt und mit fast fünfzig immer noch ledig.
Im Heim, viele Jahre danach, als ich die beiden kennenlernte, war sie dann genau das Gegenteil. Denn dort hängte sie sich mit der Zeit den Männern an den Hals, liebäugelte mit jedem und später forderte sie sogar Fremde zum Küssen auf. Das war peinlich, doch Schuld war ihre Demenz!
Diese Krankheit veränderte die Frau mit siebzig komplett. Manchmal schämte ich mich für sie und er tat mir leid, denn das war nicht mehr die, die sie mal war.
Anfangs, so erzählte man mir, hätten sie deswegen oft gestritten, laut, hemmungslos, auch mitten im Speisesaal oder im Café. Manchmal sei er auch grob zu ihr gewesen – ich denke, er verstand sie einfach nicht mehr, besonders in gewissen Momenten. Denn beide hatten Mühe mit der Realität – was ist jetzt, was war mal. Manchmal vermischt sich alles und dann hat man vieles nicht mehr unter Kontrolle, auch sein eigenes Tun nicht einmal mehr.
Später haben ihn ihre Ausfälligkeiten scheinbar kalt gelassen, wenigstens liess er sich nichts mehr anmerken. Teilnahmslos schaute er ihr beim unermüdlichen Tanzen zu, ihre Schäkereien mit anderen ignorierte er einfach oder spülte sie mit einem Schluck Wein runter. Interessierte seine Frau ihn überhaupt noch? Denn langsam war er in sich versunken, ins Früher, ins Desinteresse und in die Teilnahmslosigkeit.
Irgendwann waren beide stiller geworden, sie kam in den Rollstuhl, ihn sah man immer weniger.
Dann, vor zehn Tagen, musste sie ins Spital. Nichts Ernstes. Er hatte es ruhig hingenommen. Nach einigen Tagen würde sie ja zurückgebracht.
Doch plötzlich blühte er dann auf und ging geschäftig umher.
Ein schöner Empfang für die Rückkehr seine Frau müsse es werden: Seine Kinder würden da sein, die wenigen Freunde von früher würden am Tisch sitzen und für alle habe er ihr Lieblingsessen bestellt.
Das Fest wurde dann genau so, eindrücklich und fröhlich. Er, gekleidet wie schon lange nicht mehr.
Irgendwann wurde vom Gärtner ein riesiger Blumenstrauss geliefert. Er nahm ihn am Eingang persönlich in Empfang und brachte ihn ihr an den Tisch. Sie küssten sich innig. „Du bist ein ganz Lieber”, flüsterte sie ihm zu und streichelte zärtlich über seine Wange. Beide strahlten sich an, als wäre es nie anderes gewesen.
Er war sichtlich stolz, der grosse „Gwerbler” hatte noch einmal alles gegeben – für seine geliebte Frau. Alles war gut!
Am Abend musste er dann notfallmässig ins Krankenhaus und kam nie mehr zurück.
:)
Freitag, 11. März 2016
Berti - siehst du?
Berti - siehst du?
Berti ist bescheiden aufgewachsen.
Ein abgelegenes 'Heimetli', mehr Kinder als Kühe und viel harte Arbeit, das war ihre Jugend. Die Hänge waren stotzig, Maschinen zu teuer und darum die Arbeitstage im Sommer sehr lang. Da blieb nicht viel Freizeit. Aber alles hat man gemeinsam gemacht – gearbeitet, gesungen, gebetet.
„Ich hatte eine zufriedene Kindheit, auch wenn wir arm waren. Das Nötigste war doch immer da und die Wärme dieser grossen Familie war mit nichts nicht zu ersetzen.“
Schwierig wurde es erst später.
Der Ehemann taugte nichts, er arbeitete nicht gerne. Lieber prahlte er in der 'Beiz' und vergnügte sich oft mit anderen Frauen. In dieser Zeit war auch das Geld richtig knapp. Manchmal reichte es nicht einmal für das Notwendigste.
„In dieser Zeit habe ich nachts oft geweint.“
Denn nun war Berti nicht nur arm, jetzt war sie auch noch einsam. Die Wärme fehlte ihr, nicht nur in der Stube.
Mit Flick- und Handarbeit hat sie versucht die finanziellen Löcher zu stopfen und die drei Kinder zu sättigen. „Ich habe sie so gut es ging versorgt, aber gedankt haben sie es mir nicht.“
Bis heute hat sie kaum Besuch von ihrer Familie. „Vielleicht schämen sie sich ihrer Herkunft“, mutmasst Berti und ein Schatten huscht über ihre wachen Augen. Obschon, alle drei konnten etwas lernen und hatten später Erfolg. „Keiner ist auf die schiefe Bahn geraten“, betont Berti mit erhobenem Zeigefinger. Das ist ihr wichtig und ihre Augen strahlen wieder.
Hier im Altersheim geniesst sie den Aufenthalt, wie kaum jemand.
„Das schöne, sonnige Zimmer, reichlich feines Essen und die liebevolle Pflege – so gut wie hier, ging es mir selten.“
Berti ist bescheiden geblieben.
Sie will niemandem zur Last fallen, auch finanziell nicht. Darum pflegt sie sich möglichst selber. Katzenwäsche am Waschbecken, Haarwäsche beim wöchentlichen Duschen und ganz selten ein Bad. Ein Nagelknipser genügt ihr für die Fuss- und Handpflege und Haareschneiden nur durch das Pflegepersonal. Das kostet weniger als ein Besuch bei der Coiffeuse. So ist sie es sich gewohnt und das will sie auch nicht mehr ändern. Ihre Kleidung ist einfach und Schmuck braucht diese Frau keinen. Sie strahlt von innen.
Dann, vor drei Wochen musste Berti ins Spital.
Ein einfacher, operativer Eingriff, wie es hiess. Eine Vollnarkose brauchte es trotzdem. Berti beunruhigte der Spitalbesuch offensichtlich wenig. „Aba!“, mit einer verneinenden Kopfbewegung und einem energischen Wisch, kehrte sie ihn unter den Tisch. Alles wie üblich und schnell noch ein kleines Köfferchen gepackt.
Einige Tage später ist sie munter wieder im Heim. „Siehst du …?“, sagte sie schelmisch zur Begrüssung.
Doch kurz darauf der Bescheid:
Eine kleine Nachoperation war nötig. Nichts grosses, aber nochmals unter Vollnarkose.
Nun war es mit Bertis Gelassenheit vorbei. Sorgen türmten sich jetzt plötzlich vor ihr auf. Da nützte kein Wisch und kein gutes Zureden. Denn Berti war jetzt felsenfest davon überzeugt, dass sie eine zweite Narkose nicht überleben würde. Das musste ihr Todesurteil sein. Darauf galt es sich vorzubereiten!
Ein neues Nachthemd und frische Unterwäsche musste sofort gekauft werden. Auch das schlichte graue Kleid, das schon immer für den Todesfall im Kasten hing, musste man jetzt aufbügeln. Bei der Coiffeuse wurde ein Termin abgemacht – schneiden, waschen, legen. Dazu Fuss- und Handpflege – Maniküre und Pediküre mit Lack. Auch wollte Berti am Vortag baden und am Eintrittstag musste es eine professionelle Morgentoilette sein. Für den Ernstfall war Berti nichts zu teuer.
Von jedem einzeln hat sie sich verabschiedet und sich für die schöne Zeit im Heim herzlich bedankt.
Gestern ist Berti gut gelaunt wieder im Altersheim eingetroffen – im schlichten, grauen Kleid adrett gekleidet, aber sonst bescheiden wie immer.
„Siehst du ...?“, sagte ich und hielt ihre Hand etwas länger.
:)
Dienstag, 5. Januar 2016
Ist ein Marder Schuld an vier Morden?
Ist ein Marder Schuld an vier Morden?
Im Juni 2015 zersplittert eine Wohnzimmerscheibe in einem Dorf im Aargau. Der Grund war ein Querschläger aus der Schrotflinte eines Jagdaufsehers, der von der Polizei den Auftrag hatte, einen Marder von seinem Leiden zu erlösen. Etwa 100 Schrotkugeln durchdrangen den Storen. Zum Glück war der Mieter der Parterrewohnung, ein 19-jähriger Mann, nicht Zuhause und es kam niemand zu Schaden.
Sein herbeigeeilte Vater und der junge Mieter erhoben im regionalen TV-Sender jedoch schwere Vorwürfe gegen den Jäger: «Wäre ich da gewesen und hätte die Wäsche vor dem Fenster abgenommen, wäre es nicht so gut herausgekommen.»
Gegen den Jäger, läuft ein Verfahren wegen des Fehlschusses.
Den Schaden wird die Versicherung des Jägers inzwischen bezahlt haben – unklar bleibt, ob sich der Jäger und der Geschädigte mit seinem Vater, inzwischen über den Umfang der Entschuldigung einigen konnten.
Ein alltäglicher Fall, der in den regionalen Ausgaben der Medien zum Teil erwähnt wurde; bei der grössten Tageszeitung der Schweiz (Blick) fand ich ihn online nicht.
≈≈≈≈≈≈≈≈
Ein ganz anderes Verbrechen erschüttert sechs Monate später die ganze Schweiz.
In einer anderen Aargauer Gemeinde (ca. 5 km entfernt) findet die Polizei am 21. Dezember nach einem Hausbrand vier Leichen. Die Mutter mit ihren zwei jugendlichen Söhnen und die Freundin des Älteren wurden vor dem Brand erstochen, nachdem die 48-jährige Mutter zuvor eine unbekannte Menge Geld auf der Bank abgehoben hat.
Ein besonders brutaler und schockierender Fall über den alle Medien seit zwei Wochen fast täglich berichten, obschon die Ermittlungsbehörden absolut keine Erkenntnisse weitergeben. Scheinbar wissen sie mehr als sie sagen …. - oder tappen noch im Dunklen … Jedenfalls wird in gewissen Medien wild über den rätselhaften vierfachen Mord spekuliert, kombiniert und manchmal Haarsträubendes an den Haaren herbeigezogen um die Gazetten zu füllen.
≈≈≈≈≈
Ein Beispiel:
Die beiden oben geschilderten Fälle haben aus meiner Sicht gar nichts miteinander zu tun.
Oder doch? Der 'Blick' jedenfalls hat einen Zusammenhang gefunden:
Der Vater des Wohnungsmieters im ersten Fall soll der Freund der getöteten Mutter im zweiten Fall sein. Das ist der einzige, äusserst schwache Bezug der beiden Geschehnisse.
Nichtsdestotrotz titelt der 'Blick' heute in seiner online Ausgabe knallig:
Rätsel-Morde von Rupperswil
Hat dieser TV-Auftritt etwas mit der Tat zu tun?
Daraufhin wird die ganze Geschichte vom vergangenen Juni nochmals aufgewärmt. Keine aktuelle Erkenntnisse, keine neuen Fakten – alle damals Beteiligten geben nicht mehr Auskunft zu dieser alten, lauen Geschichte.
Trotzdem füllt das Boulevardblatt mit einem der abscheulichsten Mordtaten der letzten Jahre und einem nun schweizweit bekannten Dorfnamen, sowie einem reisserischen Titel schändlich seine Zeitungsspalten und lockt damit Leser auf seine Webseite. Gut für die Auflage, resp. die 'Klicks' – gut für die Inserenten, noch besser für die Kasse des Herausgeber!
Aber die Frage nach dem Zusammenhang der beiden Geschichten bleibt weiterhin offen?
- Warum hat der TV-Auftritt von Vater und Sohn «indirekt» etwas mit dem ungelösten Vierfach-Mord zu tun?
- Was verbindet eine harmlose Meldung über eine zerbrochene Fensterscheibe mit dem grausamen Verbrechen an einer vierköpfigen Familie?
- Was hat der Jagdaufseher mit dem abscheulichen Verbrechen zu tun?
- Ist der Sohn beteiligt? Der Vater ist es sicher nicht, das wurde bestimmt längst überprüft.
Oder – ist gar der arme tote
Marder Schuld an den an vier Morden?
.
Freitag, 25. Dezember 2015
Heiligabend am Waldrand
Heiligabend am Waldrand
Ich stehe am Fenster unserer warmen Stube und schaue von oben dem emsigen Treiben auf der verschneiten Dorfstrasse zu. Schmal schlängelt sie sich zwischen den dicken Hausmauern unseres kleinen Bergdorfes hindurch. Durch den vielen zusammengestossenen Neuschnee ist sie noch etwas schmaler geworden. Jetzt, am späteren Nachmittag vor Heiligabend, ist sie aussergewöhnlich bevölkert. Denn die Ferienhäuser der neuen Siedlung am Dorfrand sind alle belebt und auch das kleine Hotel ist über die Festtage jeweils restlos ausgebucht.
Darum herrscht überall Hochbetrieb; so auch im kleinen, aber gut sortierten Laden in der Dorfmitte oder bei der rundlichen Bäckersfrau mit dem knusperigen Holzofenbrot. Und natürlich auch beim alten Flurin, der zwar seinen siebzigsten Geburtstag schon einige Jahre hinter sich hat – seine Metzgerei aber nicht aufgeben mag, weil er keinen Nachfolger findet.
„Wo sollen denn die Leute meine feinen Würste kaufen, wenn es keine Metzgerei mehr gibt“, pflegt er jeweils mit einem Schmunzeln zu sagen.
Die abendliche Dämmerung nimmt zunehmend von der Strasse Besitz, auch wenn sich das kalte Weiss dagegen wehren möchte. Zum Glück spenden inzwischen die wenigen Strassenlaternen zusätzlich ein spärliches, aber irgendwie tröstliches Licht. Dem Tourismus zum Trotz, hat man hier vernünftigerweise auf eine kitschige Weihnachtsbeleuchtung verzichtet – der Weitsicht des alten Flurin sind die meisten heute noch dankbar.
Ein wohliges Gefühl hat sich in mir breit gemacht. So etwas wie Weihnachtsstimmung, wer hätte das vor wenigen Jahren gedacht. Wir sind erst vor drei Jahren, nachdem ich das Geschäft meinem Sohn übergeben konnte, in dieses Haus meiner Eltern eingezogen. Ein schmales, aber solides Häuschen, das vor mehr als zweihundert Jahren ebenfalls mit Weitsicht gebaut wurde. Denn es soll Generationen beherbergen. In diesem Haus fühle ich mich wieder richtig daheim.
Ich mag das einfache Leben in diesem Bergdorf. Ich bin glücklich, weit ab von der Stadt und vom Geschäft zu sein. Mein Sohn macht das gut, da lass ich ihm freie Hand, ich bin froh, habe ich hier meine Ruhe. Nun geht es ihm, wie es Jahrzehnte lang mir gegangen ist. Weihnachten findet an einem kurzen Abend statt und kaum ist man aus dem Büro, sitzt man schon wieder drin. Ich bin froh, dass ich das hinter mir habe und freue mich auf die gemütlichen zwei Abende in unserem Häuschen auf dem Maiensäss.
Plötzlich erklingt von der Strasse herauf, das Weihnachtslied “Stille Nacht, heilige Nacht”. Ich erkenne es an der Melodie - dem dünnen Gesang einer Frauenstimme, begleitet von den hohen Tönen einer Flöte. Die Worte sind hier oben im dritten Stock durch die dicken Fensterscheiben nicht zu verstehen.
Zuerst meine ich, das Lied komme aus einem Musikgerät, doch zu laienhaft ist der Gesang und auch die Flöte trifft nicht immer jeden Ton ganz genau. Ich öffne das Fenster um besser sehen und hören zu können. Ein scharfer, kalter Wind bläst mir sofort ins Gesicht. Meine Augen suchen die gegenüberliegende Strassenseite ab und entdecken unweit rechts, zwei nahe zusammenstehende Gestalten. Das leichte Wippen ihrer dunklen Umhänge lässt darauf schliessen, dass die weihnachtliche Musik von ihnen stammt. Meine Augen gewöhnen sich rasch an die Dunkelheit und ich erkenne eine ärmlich gekleidete Frau, die sich zum Schutz gegen die Kälte ein wollenes Tuch um den Kopf gewunden hat. Ihr dünner Umhang ist vor der Brust stark gewölbt, als ob sie einen Sack oder eine Umhängetasche darunter tragen würde.
Neben ihr steht ein Mann.
Er wirkte noch recht jung und hat sich eine schwarze Pudelmütze über den Kopf gezogen. Seine übrige Kleidung scheint keinen besonderen Schutz gegen die eisige Kälte zu bieten. Er spielt mit klammen Fingern auf einer einfachen, kurzen Hirtenflöte. Kein Wunder, dass er nicht jeden Ton sauber trifft. Hinter ihnen scheint eine Art Reisetasche an der Hauswand zu liegen.
Vor ihnen entdecke ich nun auch einen kleinen Pappkarton, der auf der Strasse liegt – bereit, gespendete Münzen entgegenzunehmen. Ich beuge mich etwas vor und sehe, dass ausser drei, vier Kindern, die an unserer Hauswand lehnen, niemand den beiden zuhört. Alle haben keine Zeit, sind gestresst durch die bevorstehenden Festtage und den damit verbundenen grossen Erwartungen.
Mir scheint, als hätte die Frau soeben kurz zu mir hinaufgeschaut.
Mich fröstelt und so schliesse ich schnell wieder das Fenster. Dann lösche ich das Licht im Wohnzimmer, damit ich die beiden besser beobachten kann. Nimmt mich doch Wunder, wie viel Umsatz so eine kleine Schachtel auf dem Boden einbringen kann.
Doch niemand wirft etwas hinein. Alle hasten vorbei. Kaum jemand hebt einmal den Kopf, denn jetzt hat es auch noch zu schneien begonnen. Alle starren sie auf den Boden und stolpern manchmal trotzdem beinahe über die Schachtel. Ein ärgerliches Hindernis im Fluss der Weihnachtshektik.
Immer wieder blickt die Frau nach oben.
Ich vermute, dass sie mich vielleicht sehen kann. Beschämt ziehe ich die Vorhänge zu, bleibe aber wie gebannt vor dem Fenster stehen. Inzwischen singt sie bereits das dritte Weihnachtslied: 'Macht hoch die Tür, die Tor macht weit!'
Aber niemand öffnet sein Fenster oder kommt aus dem Haus, um der frierenden Strassensängerin ein Almosen zu geben oder sie in die Wärme einzuladen.
Die persönliche Wichtigkeit, die eigenen vermeintlichen Sorgen und die geschäftige Heftigkeit haben die Menschen abgestumpft für die Not ihrer Mitmenschen. Niemand erbarmt sich der beiden Armen dort unten in der Kälte.
Vielleicht stehen noch andere, so wie ich, verborgen hinter Vorhängen auf der warmen Seite am Fenster und denken: ‘Sollen doch die dort unten, die Vorbeigehenden, etwas geben. Die Schachtel steht ja vor ihnen.’
Mir scheint, dass die Frauenstimme immer lauter und eindringlicher klingt und, dass die Flöte immer schriller in mein warmes Wohnzimmer dringt. Und immer wieder schaut diese Frau zu unserem Fenster hinauf – mir wäre lieber sie würde endlich aufhören zu singen und gehen. Sollen sie doch einsehen, dass hier, in unserem friedlichen Bergdorf nichts zu holen ist. Sollen sie doch in die Städte gehen und dort betteln, nicht hier in unserer heilen Welt.
Doch unermüdlich singt die Frau weiter und nun stimmt auch der Mann noch mit ein:
'Oh du fröhliche, oh du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit'.
Viel zu laut, die Männerstimme! Brüchig, rau, fast etwas trotzig, wie mir scheint. Wie viel schöner war es doch, als nur die Frauenstimme gesungen hat und er dafür in die Flöte blies.
Ich wende mich vom Fenster ab, ich habe genug von dem Weihnachtsspektakel da draussen. Was bin ich froh, dass ich mir das Ganze nicht mehr antun muss – haufenweise unnötige Geschenke, wo doch so viele kaum etwas haben. So viele, üppige Festessen, angesichts dieser vielen Hungernden. Nein, damit will ich nichts mehr zu tun haben! Das ist doch reiner Unsinn oder ist es einfach mein schlechtes Gewissen?
Ich gehe zur Küche, um zu sehen, ob Madlaina inzwischen alles für die Hütte eingepackt hat. Viel braucht es ja nicht, etwas Gemüse, ein paar Zwiebeln, ein rechtes Stück Speck – Gerste für die Suppe hat es sicher noch oben. Und morgen machen wir ein gemütliches Fondue.
Ich bin froh, dass wir punkto Weihnachten gleicher Meinung sind und auch sie sich auf diese zwei gemütlichen Tage ohne Hektik und Stress freut.
Die beiden Rucksäcke stehen in der Küche bereit, also höchste Zeit die warmen Winterstiefel anzuziehen.
Da klingelt es an der Haustüre.
Wer kommt denn jetzt noch, denke ich leicht verärgert und schliesse auf.
Da fährt mir der Schreck in alle Glieder!
Draussen steht die Frau, die auf der Strasse unten die Weihnachtslieder gesungen hat.
Instinktiv will ich die Türe gleich wieder schliessen. Aber die linke Hand, die das tun soll, ist wie gelähmt. Stocksteif stehe ich in der Türe und schaue in zwei sonderbare Augen. Augen wie ich sie noch nie gesehen habe – voller Warmherzigkeit und Güte. Ein Blick, der sofort den Weg in mein Herz findet.
Die Frau sagt kein Wort, nur ihre Augen sprechen zu mir. Ich kann meinen Blick nicht abwenden. Mir ist, als sähe ich in eine andere Welt! Ein Garten Eden der vollkommenen Liebe und Harmonie – ja, ich habe ins Paradies gesehen.
Ich muss den Blick senken, soviel Sanftmut und Wärme ist kaum zu ertragen. Nun sehe ich auch, was die Frau im leicht zurückgeschlagenen Umhang vor der Brust trägt. Ein Baby in einem Umhängetuch. Das trotz der eisigen Kälte etwas gerötete Köpfchen ruht auf ihrer Brust. Es mag vielleicht ein Jahr alt sein und scheint zu schlafen.
Mechanisch wandert meine rechte Hand zur hinteren Hosentasche und zieht den Geldbeutel hervor. Mist, ich habe nur zwei 50er-Noten. Etwas zögerlich trenne ich mich von einer.
„Danke“, sagt eine feine Stimme. Ich schaue wieder hoch und erfasse nun das ganze Gesicht. Es ist jung und hübsch, etwas fahl und ziemlich bleich mit blaugefrorenen Lippen. Doch umso faszinierender sind diese warmherzigen Augen.
„Danke, danke viel“, stammelt die junge Frau nochmals in gebrochenem Deutsch.
Nun scheint der Bann gebrochen und ich schliesse ohne ein Wort schnell die Türe. Mein Herzschlag hat sich erhöht, ich muss mich kurz am Türrahmen festhalten. Ich frage mich, warum ich mich etwas schäme.
„Wer war es“, ruft Madlaina aus dem Schlafzimmer. Ich atme tief durch:
„Eine Bettlerin!“ sage ich mit möglichst gleichgültiger Stimme.
„Ach, haben wir die nun auch schon da oben bei uns? Die nutzen doch einfach die Freigiebigkeit der Menschen in der Weihnachtszeit aus. Hast Du etwas gegeben?“
„Ja, ein wenig“, gebe ich zur Antwort und wundere mich gleichzeitig, dass ich etwas gegeben habe. Vielleicht liegt es doch am heutigen Tag.
© Bild von: werner22brigitte / Lizenz: CC0 / by: pixabay
Wenig später waten wir mit den Stöcken durch den kniehohen Neuschnee dem oberen Waldrand entgegen. Der Schneefall hat inzwischen aufgehört und die Wolken haben dem Sternenhimmel Platz gemacht. Das Häuschen liegt wenig unterhalb der kaum noch befahrenen alten Passtrasse, die nach Italien führt. Auch wenn das 'Maiensäss' bequem mit dem Auto erreichbar wäre, gehen wir doch meistens zu Fuss hinauf. Die Wegstrecke von gut einer Stunde ist zu jeder Jahreszeit einfach faszinierend. Besonders auch in einer dunklen Winternacht mit Vollmond ist die Aussicht auf das Dörfchen im Tal unten besonders anmutig.
Ich habe das gemütlich ausgebaute Bauernhaus vor Jahren von meinen Eltern geerbt, es immer gut im Schuss gehalten; doch erst in den letzten Jahren so richtig schätzen gelernt. Seit der Pensionierung verbringen wir immer öfter Zeit hier oben, weit ab von der Zivilisation. Wir lieben das gesunde, einfache Leben in der Natur immer mehr. Die saubere Luft, das frische Wasser, die Ruhe und die grandiose Aussicht in die Bergwelt ist durch nichts zu ersetzen.
Im Sommer haben wir im ehemaligen, kleinen Schafstall neben dem Haus tüchtig Brennholz aus unserem Waldstück aufgefüllt und schon bald wird ein gemütliches Feuer im Herd uns eine herrliche Gerstensuppe bescheren und der unvergleichliche Duft, der im Ofenrohr schmorenden Bratäpfel wird durch das ganze Häuschen ziehen. Zufriedenheit mischte sich mit gemütlicher Behaglichkeit und diese wahrhaftige Feststimmung brauchte keine weiteren Geschenke. Heiligabend, wie ich es mir schon immer insgeheim gewünscht habe.
Bereits haben wir das dunkle, untere Waldstück hinter uns gelassen und stehen nun vor der weiten, weissen Fläche des oberen Maiensässes. Bereits meine Grosseltern haben die Matten verkauft, nur die beiden Gebäude dort oben, haben sie behalten. Zum Glück, so etwas wäre heute unbezahlbar. Das Weiss des Schnees reflektiert das Vollmondlicht und es ist fast taghell. Ich schaue den Hang hinauf. Wie unheimliche, riesige Schatten stehen die hohen Tannen oben an der Gebirgsstrasse. Darunter duckt sich unser Häuschen an den Waldrand, als ob es dort Schutz suchen würde. Daneben, der ehemalige Stall, der nebst dem Brennholz auch Platz für eine kleine Werkstatt bietet. Das ist mein kleines persönliches Reich, in dem ich mich im Sommer stundenlang beschäftigen kann.
In einer Viertelstunde sind wir oben.
Mir ist, als ob ich gerade eine flüchtige Bewegung neben dem kleinen Stall gesehen hätte, aber das ist unmöglich. Niemand kommt hierher, sowieso nicht im Winter. Zudem hinterlassen wir beide gerade die ersten Spuren im unberührten Neuschnee der grossen Waldlichtung.
Und doch, je näher wir uns unserem kleinen Paradies nähern, desto mehr habe ich das Gefühl, als ob etwas nicht wie gewöhnlich ist.
Kleine helle Punkte an der Holzwand des Schopfes werden sichtbar. Glühwürmchen im Winter? Nein, Licht das durch die feinen Ritzen dringt.
„Madlaina, schau mal“, sage ich. „Ist da jemand im Holzschopf?“
Ich nehme die beiden Gehstöcke etwas fester in die Hand.
„Hallo, ist das jemand“, rufe ich, sobald wir die kurze, ebene Fläche vor den beiden Gebäuden betreten. Sofort verschwinden die Lichtpunkte an der Hüttenwand. Nichts rührt sich. Mit dem ausgestreckten linken Arm bedeute ich Madlaina, dass sie zurückbleiben soll, während ich den gewichtigen Rucksack in den Schnee gleiten lasse und die Taschenlampe aus der Jacke ziehe. Langsam gehe ich auf die Stalltüre zu, den einen Wanderstock wie eine Stichwaffe vor mich herhaltend.
Nochmals rufe ich „Hallo“, nicht zuletzt um mir mit meiner eigenen Stimme etwas Mut zu machen. Nun ist ein leises Wimmern zu hören.
Nur zögernd öffne ich die Türe, jederzeit gewahr, dass ein Tier oder gar ein Ungeheuer herausschiessen könnte. Mit der starken Taschenlampe zünde ich ins Innere. Zwei Menschen mit angstvoll aufgerissenen Augen starren mich an und ich erblickte die gleichen Augen, die mich auch schon am Nachmittag in ihren Bann gezogen hatten. Da sitzt starr vor Schreck die Bettlerin mit ihrem Mann am alten Holztisch. Die beiden halten schützend einen Arm vor das Gesicht, weil meine Taschenlampe sie blendet. Ich senke den Lichtstrahl zum Tisch. Dort liegt mein alter Militärmantel und darin vermute ich das Baby. Instinktiv ergreift die Frau das Bündel und drückt es an sich.
Der Mann steht auf und stellt sich mit einem dicken Stock in der Hand, schützend neben seine Frau.
Dieses Bild erfasst sofort mein Herz.
Wie Josef und Maria im Stall!
Hinter mir spüre ich Madlaina, die nun ebenfalls unter der Türe steht.
„Oh, Hallo“, sagt sie mit ruhiger Stimme und macht einen Schritt vorwärts. Ihre Anwesenheit löst sofort die Spannung und macht einer gespannten Aufmerksamkeit Platz.
„Hallo, wer sind sie?“ fragt Madlaina mit sanfter Stimmung.
„Die Bettlerin“, raune ich ihr zu und ziehe meine Mütze vom Gesicht.
Sofort entspannt sich das Gesicht der jungen Frau, was auf ein Wiedererkennen schliessen lässt. Schnell flüstert sie einige unverständliche Worte zu ihrem Mann, worauf er sich ermattet wieder auf die Bank setzt.
Madlaina geht zu der Frau hin, legt einen Arm um Ihre Schultern und deutet auf meinen grünen Filzmantel:
„Baby“?
Die junge Frau nickt und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.
„Kommen sie“, sanft schiebt Madlaina die beiden in Richtung Türe.
Der junge Mann beobachtet mich weiterhin misstrauisch.
„Hallo, ich bin Andri.“
Mit ausgestrecktem Arm bewege ich mich auf ihn zu. Er steht sofort auf, streckt mir seine Hand entgegen und stammelt etwas, das sich wie Farid anhört.
„Sprechen sie Deutsch, Englisch, Italien?“ frage ich.
„Yes, Englisch…..“, sagt mein Gegenüber.
„Ok, let us also go into the house – to the women. But first, I need some firewood.
Hilfsbereit hilft der junge Mann mit, gespaltenes Holz in einen Weidenkorb zu legen.
Ich versorge noch schnell unsere Wanderstöcke. Während ich die beiden Rucksäcke schultere, hebt der Fremde den schweren Korb hoch, um ihn ins Haus zu tragen,.
Dann wirft er einen Blick auf die kleine Reisetasche, die noch auf der Bank steht.
„That's OK“, sage ich und mache eine beschwichtigende Handbewegung, dass er sie dort stehen lassen soll. Auch ein weisser Plastiksack und eine ausgeblasene, dicke Kerze bleiben auf dem Tisch zurück.
Im Haus brennt bereits ein kräftiges Feuer im Herd und wärmt langsam den Wohnraum. Die fremde Frau sitzt auf dem Sofa und hält sich das Baby unter ihrem Umhang an die Brust. Farid setzt sich neben sie.
„Nun wollen wir erst einmal die Gerstensuppe zum Kochen bringen.“
Madlaina hat bereits Zuhause das Gemüse und die Zwiebeln kleingemacht und schon bald wird ein herrlicher Duft die Küche durchziehen.
„Hungry?“ frage ich und die beiden nicken heftig.
Jetzt steht Farid auf und geht aus dem Haus. Bald kommt er mit dem weissen Plastiksack von der Bäckerei im Dorf zurück und packt ein grosses, knusperiges Brot und eine dicke Wurst aus.
Geld konnten die beiden mit ihrem Gesang kaum sammeln, es reichte gerade mal für ein paar Kerzen. Aber wenigstens der alte Flurin hatte mit ihnen Mitleid und kam mit der grossen Wurst aus dem Laden. Schnell hatte er die Bäckersfrau davon überzeugt, dass auch zur besten Wurst, viel Brot gehört.
Mit einer einladenden Handbewegung und einem „Please“ zeigt Farid nun an, dass er uns zum Mitessen einladen möchte. Und weil die Suppe schon noch eine Stunde auf dem Holzherd köcheln sollte, stillen wir gerne inzwischen den ersten Hunger mit Wurst und Brot.
So sitzen wir schon bald zu viert um den Tisch. Die kleine Myriam liegt gut versorgt in unserem grossen Bett und schläft.
Die anfängliche Scheu legt sich schnell.
Wir erfahren von einem grässlichen Krieg im Heimatland, von einer beschwerlichen Flucht voller Entbehrungen, die bereits über anderthalb Jahre dauert. Von Gefängnis und Geiselnahme, von Schutz-, Schmier- und Schleppergeldern und einer schier endlosen Aneinanderreihung von widerlichsten Umständen.
Aber sie erlebten auch Schönes: Die Geburt ihrer Tochter vor zehn Monaten; den Unterschlupf, den sie in den ersten drei Monaten danach bei einer wildfremden, einfachen Familie fanden und immer wieder Solidarität von herzensguten Menschen.
Der letzte Schlepper hat sie dann für viel Geld auf der Passstrasse soweit gefahren, wie es der Neuschnee zuliess. Nachdem er mit dem ausgestreckten Arm auf das verlassene Zollhäuschen hoch oben auf dem Berggrat gezeigt hatte, ist er schnell verschwunden und hat sie alleine zurückgelassen. Zu Fuss haben sich die Beiden auf der tiefverschneiten Passtrasse über die Grenze gekämpft und sind dabei auf unser Häuschen gestossen. Weil der alte Stall unverschlossen war, suchten sie dort gestern Abend Unterschlupf. Aber die Kleine bekam hohes Fieber und so wagten sie sich heute in unser Dorf. Mit meinen fünfzig Franken bezahlten sie die Medikamente, für unseren längst pensionierten Doktor reichte das Geld jedoch nicht mehr. Zum Glück hatte er grosszügig auf sein Honorar verzichtet. Wie es nun weiter gehen soll, das wissen sie nicht.
Wir reden noch lange, bis weit nach Mitternacht. Nahla ist irgendwann auf dem Sofa eingeschlafen. Doch Farid scheint froh zu sein, endlich einmal jemandem sein Schicksal erzählen zu können; ich glaube er vertraut uns.
Wir beschliessen, den beiden unser Bett zu überlassen, damit die Kleine nicht geweckt werden muss. Madlaina und ich schlafen auf den Etagenbetten im Zimmer nebenan. Morgen werden wir ins Dorf hinunter gehen um genügend Esswaren, Kleider und Sachen für das Baby zu holen, damit die junge Familie vorerst einige Tage in unserem Häuschen wohnen kann. Sobald die Festtage vorbei sind, werde ich alles unternehmen, dass sie in unserer Gemeinde wohnen bleiben können. Sie werden die ersten Flüchtlinge im Bergdörfchen sein und es braucht bestimmt viel Überzeugungskraft bei den alteingesessenen Dorfbewohnern. Aber drei Verbündete haben wir bereits, den alten Doktor, die Bäckersfrau und natürlich Flurin – dem alten Metzgermeister vertrauen die Leute.
Ich freue mich darauf, etwas Sinnvolles und Nützliches tun zu können, um den Beiden zu helfen.
Denn Dank ihnen habe ich zum ersten Mal erfahren, was Heiligabend und Weihnachten wirklich ist.
© Copyright by Herr Oter (Dezember 2015)
Ich wünsche allen schöne Festtage.
:)
Mittwoch, 23. Dezember 2015
Der verlorene Weihnachtsstern
Der verlorene Weihnachtsstern
Die vierte und letzte Adventsgeschichte für meine diesjährigen Lesungen
im Adventskaffee des Altersheims
(Blog-Version)
Lisbeth ist gerade an den letzten Handgriffen am schön geschmückten Christbaum, als sie die gellenden 'Mama-Mama'-Rufe des kleinen Walterli hört.
‘Endlich ist er Daheim’, denkt Lisbeth.
Ihr Haus liegt etwas ausserhalb des kleinen Land-Städtchens und ihre Kinder haben darum einen recht langen Schulweg. Beim neugierigen Walterli dauert es oft noch etwa länger; denn auf seinem Schulweg gibt es eben immer wieder Neues und Spannendes, das ihn ablenkt. Da muss noch das neue Kälbchen beim Bauern geschaut werden oder er beobachtet die Kaulquappen im kleinen Wehr. Heute soll es eine geheimnisvolle Tierspur im Neuschnee gewesen sein, die er neugierig verfolgt hat, erzählt seine Schwester. Sie sitzt bereits seit einer halben Stunde Zuhause in ihrem Zimmer und packt noch das letzte Weihnachts-Geschenk ein, um es danach draussen im 'Schopf' zu all den anderen in eine grosse Holz-Truhe zu legen.
Hanspeter, der Mann von Lisbeth, wird dann später, anstelle des Christkindes, die Weihnachtsgeschenke aus der Truhe unbemerkt ins hintere 'Stübli' bringen bringen und unter den Weihnachtsbaum legen. Lisbeth hat dazu das Fenster nur leicht angelehnt.
So macht man das in diesem Haus schon seit Generationen.
Nur einmal, Lisbeth ging damals noch nicht zur Schule, ist dabei ein Missgeschick passiert.
Schreinermeister Kneubühler, der zufälligerweise auf der Strasse vorbeikam, beobachtete, wie jemand hinter dem Haus durchs Fenster einsteigt. Der aufmerksame Mann meint, Lisbeths Vater sei ein Einbrecher. Er läutet unerschrocken vorne an der Haustüre – die kleine Lisbeth hat dann geöffnet …
Schnell war dann der kindliche Glaube, dass das Christkind die Weihnachts-Geschenke bringen würde, verflogen.
Auch das bisschen Engelshaar, das man am Abend noch am Weihnachtsbaum gefunden hat, konnte das nicht mehr ändern.
Mit einem Lächeln schliesst Lisbeth jetzt schnell die hintere 'Stübli'-Türe.
„Mami, Mami, Maaami!“
Walterli steht weinend unter der Haustüre.
„Was ist denn auch passiert?“
Lisbeth nimmt den Kleinen in den Arm und streicht ihm tröstend über die Haare.
„Bist du umgefallen – hast du dir weh getan?“
„Der Stern, der Stern, der schöne Weihnachtstern“, schluchzt der Bub und sein schmächtiger Körper wird heftig durchgeschüttelt.
„Was ist denn mit dem Stern, was ist passiert?“
„Ich habe ihn verloren, meinen schönen Stern, den wir in der Schule gebastelt haben. Irgendwo auf dem Weg habe ich ihn verloren und nicht mehr gefunden. Ich wollte ihn doch dir schenken.“
Walterli wird von einem neuen Weinkrampf geschüttelt.
Mit der Zeit erfährt Lisbeth, dass Walterli, als er der Tierspur ins Gestrüpp gefolgt ist, den selbstgemachten Weihnachtsstern auf die Bank beim Wehr gelegt hat. Als er zurückkam, war der Stern weg. Er habe noch überall gesucht, jammert der Kleine ganz enttäuscht.
„Ich werde ihn nachher auch noch suchen gehen“, tröstet ihn die Mutter. „Ein paar andere Schulbuben werden ihn vielleicht irgendwo versteckt haben, ich werde ihn schon finden. Komm jetzt, zuerst mache ich dir nun eine Tasse heisse Schokolade – du bist ja ganz durchgefroren, sonst wirst du mir noch krank.“
Wenig später macht sich Mama auf die Suche. Es hat bereits eingedunkelt, nur der Vollmond spendet etwas Licht. Sie läuft den ganzen Weg dem Fluss entlang zurück, schaut immer wieder hinter die grossen Granitblöcke am Wegrand und unter die verschneiten Büsche .
‘Wenn man den Stern nur nicht ins Wasser geworfen hat’, denkt Lisbeth, ’denn dann wäre er nicht mehr zu retten.’ Sie mag sich gar nicht ausdenken, wie enttäuscht ihr Kleiner sein würde, wenn sie ohne seinen Weihnachtsstern nach Hause kommt.
Trotz der Sorge um Walterli und der Suche nach dem Weihnachtsstern, geniesst Lisbeth nach der hektischen Vorweihnachtszeit den Fussmarsch durch den Neuschnee. Auch wenn ein recht scharfer, kalter Wind über die Weite der Felder zieht. Aber es ist eine sternenklare Nacht und die Ruhe wird nur von Windgeräuschen und dem beruhigenden Plätschern des Flusses begleitet.
Beim Holzwehr schaut sie sich etwas genauer um. Gut sieht sie die kleinen Abdrücke von Walterlis Winterstiefeln im Schnee. Aber weder bei der ersten noch der zweiten Sitzbank, links und recht vom Wehr, findet Lisbeth den Stern. Sie hatte gehofft, dass er durch den Wind vielleicht hinter die Bank oder in das Gebüsch geflogen sein könnte. Aber sie findet nichts.
Bei Lisbeth schwindet nun doch die Hoffnung, mit dem verlorenen Weihnachtsstern nach Hause kommen zu können.
”Vielleicht hat er ihn ja auch schon früher verloren“, macht sie sich wieder etwas Hoffnung und geht weiter zur kleinen Holzbrücke beim Wasserfall.
Dort bleibt sie wie immer etwas stehen. Es ist einer ihrer Lieblingsplätze. Gerne schaut sie in der Mitte der Brücke stehend, einen Moment dem Fluss zu. Es fasziniert sie immer wieder, wie er dort auf der einen Seite breit und ruhig, nichts ahnend auf den Wasserfall zufliesst; sich dann etwas verengt und unter der Brücke gleichmässig über die Kante rinnt. Tosend und mit heftigen Turbulenzen wird er dann tüchtig durchgemischt und mit viel Sauerstoff angereichert. Doch nur wenige Meter später setzt er auf der anderen Brückenseite seinen Weg still und bedächtig weiter fort, als ob nichts geschehen wäre.
‘Fast wie im Fluss des Lebens,’, denkt Lisbeth, ’es gibt immer mal wieder heftige Turbulenzen – man wird kräftig durcheinander gebracht – aber dann geht das Leben einfach um eine Erfahrung reicher weiter.’
Nach einem tiefen Atemzug setzt die junge Frau ihren Weg über die Brücke fort. Kurz darauf sieht sie auf der anderen Flussseite das hellerleuchtete Alterszentrum mit dem Heim und den Alterswohnungen. Die Heimbewohner scheinen gerade beim Nachtessen zu sitzen, der Speisesaal strahlt Gemütlichkeit und behagliche Wärme durch die hell erleuchteten Fenster aus.
Plötzlich glaubt Lisbeth durch das dichte Gebüsch am Wegrand etwas zu hören. Ist es ein Hüsteln, ein Jammern oder weint da gar jemand? Die junge Frau bekommt ein wenig Angst. Jetzt muss sie auch noch den dunklen Weg hinauf zum Schulzentrum gehen und genau von dort oben kam das unheimliche Geräusch. Liesbeth muss jetzt allen Mut zusammen nehmen. Zum Glück hat sie die starke Taschenlampe mitgenommen, die sie nun aus der Manteltasche zieht. Sie leuchtet vor sich auf den verschneiten Kiesweg und nimmt die Steigung in Angriff. Etwas mulmig ist ihr schon.
Nach einigen Schritten kommt sie zu einer weiteren Sitzbank. Dort scheint sich etwas zu bewegen. Lisbeth richtet den Lichtstrahl auf die Bank und sieht eine zusammengekauerte Gestalt in der Kälte sitzen. Ein Gehstock ist an die Bank gelehnt. Es scheint ein alter Mann zu sein, denn manchmal hüstelt er ein wenig; das Geräusch muss von ihm gekommen sein. Aus seiner rechten Manteltasche ragt eine Weinflasche. Neben ihm liegt ein goldgelber Weihnachtsstern.
Lisbeth ist erleichtert. Aber das Gefühl wird schnell von einer gewissen Angst abgelöst. Denn in der dunklen Gestalt erkennt sie den alten Schreinermeister Kneubühler, ein vierschrötiger, etwas mürrischer Mann. Schon immer hat sie sich vor seinem Aussehen etwas gefürchtet und, dass gerade er ihr damals die Illusion vom Christkindes geraubt hatte, machte ihn auch nicht sympathischer.
Mutig geht sie näher.
„Guten Abend, Herr Kneubühler.“
Der Mann richtet einen stumpfen Blick auf sie.
„Ich bin die Lisbeth, die Tochter des Gretler Hannes – des Schmieds.“
Ein undefinierbarer Brummton ist zu hören und nach einer Pause des Nachdenkens sagt er:
„Aha, der Schmied-Hannes – war ein guter Mensch, der Hannes – aber auch schon seit ein paar Jahren weg – ja, so gehts.“
„Darf ich mich kurz zu ihnen setzen?“ fragt Lisbeth.
Der grosse Mann rückt etwas zur Seite.
„Und du bist also die kleine Lisbeth“, der alte Mann macht eine Pause und versucht sich zu erinnern.
„Warst nicht du es damals? – als ich meinte, dein Vater …“
Lisbeth muss lächeln:
„… sei ein Einbrecher“, ergänzt sie freundlich.
„Hast mir leid getan. Hab ja gesehen, wie du erschrocken bist und wie deine Mutter mit den Händen gefuchtelt hat.“
„Ist schon gut“, Lisbeth legt beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm, „es ist lange her.“
Beide schweigen für einen Moment.
„Ich bin auf der Suche nach einem Weihnachtsstern. Mein Sohn hat ihn verloren und wie ich sehe, liegt er vermutlich dort neben ihnen auf der Bank.“
„Kann sein“, kommt es zögerlich, hab ihn gefunden – hinter der Bank am Wehr. Ich mache mir ja nichts aus Weihnachtssternen – aber der Wind, hat ihn zum Wasser getrieben“
„Dann haben sie ihn also gerettet“, wundert sich Lisbeth.
Dankbar drückt sie ihm ein bisschen den Arm.
„Habe mir schon gedacht, dass ein Kind ihn suchen wird“, murmelt der Mann, „aber dort war es mir zu windig …“
„… und darum haben sie hier gewartet?“
Lisbeth ist ganz gerührt. So hat sie den Kneubühler gar nicht eingeschätzt: So lange hier zu sitzen – in der Kälte – wegen einem Weihnachtstern und einem Kind.
Der alte Mann greift nach dem Stern und legt ihn der Lisbeth auf den Schoss.
„Wie heisst denn der Kleine?“
„Walterli.“
Wieder entsteht eine Pause und Lisbeth beginnt zu frösteln.
„Hier können sie nicht sitzen bleiben, Herr Kneubühler“, sagt sie und steht auf.
„Kommen sie, ich begleite sie ein Stück nach Hause. Wohnen sie nicht dort unten in einer Alterswohnung?“
„Walter, genau wie ich.“ Zum ersten Mal huscht ein Lächeln über sein faltiges Gesicht. Der alte Mann greift nach seinem Stock und erhebt sich mühsam von der Holzbank.
„Ich musste einfach raus – überall diese Weihnachten, auf jedem Sender, das ist ja nicht zum Aushalten.“
„Heute ist eben Heilig Abend“, wendet Lisbeth ein.
„Für mich nicht!“, kommt es etwas barsch vom Mann.
„Mögen sie keine Weihnachten?“
„Ich mache mir nichts mehr daraus. Und seit Heidi gestorben ist, erst recht nicht. Zu viele Erinnerungen. Früher gab es wenigstens noch ein gutes Essen und heute? Hocke ich alleine – ich hasse diese Festtage.“
„Haben sie denn niemanden, der zu ihnen schaut, Kinder, Nachbarn oder so?“
„Ach, die einen sind zu weit weg, die anderen haben keine Zeit oder sind irgendwo eingeladen. Das ist doch die dümmste Zeit des Jahres.“
Bald sind sie bei den Alterswohnungen angelangt. Der alte Mann tut Lisbeth leid. Einsam und verbittert wird er nun den Heiligen Abend trostlos und alleine aushalten müssen.
„Es würde mich freuen, wenn sie den heutigen Abend mit uns verbringen würden, Herr Kneubühler.“
„Ach was, das geht doch nicht“, entgegnet der alte Mann mürrisch.
„Anderen Menschen noch zur Last fallen – nein danke, ist schon gut!“
„Sie fallen uns nicht zur Last, Herr Kneubühler. Ich dachte nur – der Walterli – nun ja, er hat eben seinen Grossvater kaum gekannt. Er war noch zu klein, als mein Vater starb. Da dachte ich, dass vielleicht sie …? Ich meine, das wäre doch schön – und nachher gibt es feinen Schinken mit Kartoffelsalat und ein Glas Roten, oder auch zwei. Ich würde sie dann mit dem Auto auch wieder hierher zurückbringen.“
Unsicher schaut sie der alte Mann an. Lisbeth hält seinem Blick stand:
„Es würde mich wirklich freuen; und bestimmt freut sich auch Walterli!“
„Also gut, wegen Walterli - und bei dir habe ich ja auch noch etwas gut zu machen, von früher“, sagt der Mann schmunzelnd; „und, die nehme ich mit für uns alle.“
Damit zieht er die ungeöffnete Weinflasche aus der Manteltasche.
„Mit der wollte ich mich nämlich heute Abend betrinken, aber nun … – Ich muss mich nur rasch etwas 'zwäg machen', kommst du schnell mit hinauf – und gell, nenn mich bitte Walter.“
Bald hat sich Walter rasiert, gekämmt und schön angezogen. Sogar eine Krawatte hat er umgebunden. Lisbeth hat derweilen im gemütlichen Wohnzimmer gewartet. Nun ist es aber höchste Zeit, sich rasch auf den Weg zu machen. Lisbeth hält den verlorenen Weihnachtstern in der Hand und Walter Kneubühler die Weinflasche in einem Sack.
Gemeinsam gehen nun schweigend über den knirschenden Schnee, jeder zufrieden, dass er dem anderen etwas behilflich sein kann. Denn auch Walter freut sich jetzt auf einen gemütlichen Heiligen Abend.
„Den Stern gibst du dann bitte dem Walterli, gell!“, unterbricht Lisbeth die Stille. „Schliesslich hast du ihn gefunden und gerettet. Er wird sich darüber sicher mächtig freuen.“
© Bild von: agnesliinnea / Lizenz: CC0 / by: pixabay
Genau so kommt es. Walterli ist überglücklich, dass Walter den Stern gerettet hat.
Auch der Vater und die Schwester müssen nun sein Kunstwerk bestaunen. Dann bringt der kleine Walterli dem grossen Walter Hammer und Nägel und zusammen hängen sie den goldenen Weihnachtsstern draussen neben die Eingangstüre.
Schon bald glaubt Walterli ein leises Klingeln vernommen zu haben und Walter kann das mit einem Schmunzeln nur bestätigen. Ja wirklich, im 'Stübli' leuchtet der Weihnachtsbaum wunderschön und das Christkindli hat einige Geschenke darunter gelegt. Auch zwei für Walter – Lisbeth hat noch schnell etwas eingepackt.
Es wird ein besinnlicher Heilig Abend. Walter muss sich während der Feier einige Male mit dem Ärmel verstohlen über die feuchten Augen wischen. Beim anschliessenden, gemütlichen Nachtessen wird allerhand besprochen. Auch, dass Walter nun öfters in die Weidmatt zum Essen kommt. Zudem gibt es für den früheren Schreinermeister im alten Bauernhaus allerhand zu flicken. So auch die alte Truhe im Holzschopf. Die könnte er etwas aufmöbeln, damit sie den alten Weihnachtsbrauch auch bei den nächsten Generationen schadlos überdauert.
Lisbeth hat übrigens fest vorgenommen, auch bei Walter nun öfters vorbeizuschauen, wenn sie zum Einkaufen geht. Der früher so gefürchtete Mann ist ihr nämlich in den weihnachtlichen Stunden so richtig an Herz gewachsen.
Copyright Herr Oter (Dezember 2015)
Eine schweizerdeutsche Lesefassung für den privaten Gebrauch
kann auf Anfrage bei mir bezogen werden.
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