Der verlorene Weihnachtsstern
Die vierte und letzte Adventsgeschichte für meine diesjährigen Lesungen
im Adventskaffee des Altersheims
(Blog-Version)
Lisbeth ist gerade an den letzten Handgriffen am schön geschmückten Christbaum, als sie die gellenden 'Mama-Mama'-Rufe des kleinen Walterli hört.
‘Endlich ist er Daheim’, denkt Lisbeth.
Ihr Haus liegt etwas ausserhalb des kleinen Land-Städtchens und ihre Kinder haben darum einen recht langen Schulweg. Beim neugierigen Walterli dauert es oft noch etwa länger; denn auf seinem Schulweg gibt es eben immer wieder Neues und Spannendes, das ihn ablenkt. Da muss noch das neue Kälbchen beim Bauern geschaut werden oder er beobachtet die Kaulquappen im kleinen Wehr. Heute soll es eine geheimnisvolle Tierspur im Neuschnee gewesen sein, die er neugierig verfolgt hat, erzählt seine Schwester. Sie sitzt bereits seit einer halben Stunde Zuhause in ihrem Zimmer und packt noch das letzte Weihnachts-Geschenk ein, um es danach draussen im 'Schopf' zu all den anderen in eine grosse Holz-Truhe zu legen.
Hanspeter, der Mann von Lisbeth, wird dann später, anstelle des Christkindes, die Weihnachtsgeschenke aus der Truhe unbemerkt ins hintere 'Stübli' bringen bringen und unter den Weihnachtsbaum legen. Lisbeth hat dazu das Fenster nur leicht angelehnt.
So macht man das in diesem Haus schon seit Generationen.
Nur einmal, Lisbeth ging damals noch nicht zur Schule, ist dabei ein Missgeschick passiert.
Schreinermeister Kneubühler, der zufälligerweise auf der Strasse vorbeikam, beobachtete, wie jemand hinter dem Haus durchs Fenster einsteigt. Der aufmerksame Mann meint, Lisbeths Vater sei ein Einbrecher. Er läutet unerschrocken vorne an der Haustüre – die kleine Lisbeth hat dann geöffnet …
Schnell war dann der kindliche Glaube, dass das Christkind die Weihnachts-Geschenke bringen würde, verflogen.
Auch das bisschen Engelshaar, das man am Abend noch am Weihnachtsbaum gefunden hat, konnte das nicht mehr ändern.
Mit einem Lächeln schliesst Lisbeth jetzt schnell die hintere 'Stübli'-Türe.
„Mami, Mami, Maaami!“
Walterli steht weinend unter der Haustüre.
„Was ist denn auch passiert?“
Lisbeth nimmt den Kleinen in den Arm und streicht ihm tröstend über die Haare.
„Bist du umgefallen – hast du dir weh getan?“
„Der Stern, der Stern, der schöne Weihnachtstern“, schluchzt der Bub und sein schmächtiger Körper wird heftig durchgeschüttelt.
„Was ist denn mit dem Stern, was ist passiert?“
„Ich habe ihn verloren, meinen schönen Stern, den wir in der Schule gebastelt haben. Irgendwo auf dem Weg habe ich ihn verloren und nicht mehr gefunden. Ich wollte ihn doch dir schenken.“
Walterli wird von einem neuen Weinkrampf geschüttelt.
Mit der Zeit erfährt Lisbeth, dass Walterli, als er der Tierspur ins Gestrüpp gefolgt ist, den selbstgemachten Weihnachtsstern auf die Bank beim Wehr gelegt hat. Als er zurückkam, war der Stern weg. Er habe noch überall gesucht, jammert der Kleine ganz enttäuscht.
„Ich werde ihn nachher auch noch suchen gehen“, tröstet ihn die Mutter. „Ein paar andere Schulbuben werden ihn vielleicht irgendwo versteckt haben, ich werde ihn schon finden. Komm jetzt, zuerst mache ich dir nun eine Tasse heisse Schokolade – du bist ja ganz durchgefroren, sonst wirst du mir noch krank.“
Wenig später macht sich Mama auf die Suche. Es hat bereits eingedunkelt, nur der Vollmond spendet etwas Licht. Sie läuft den ganzen Weg dem Fluss entlang zurück, schaut immer wieder hinter die grossen Granitblöcke am Wegrand und unter die verschneiten Büsche .
‘Wenn man den Stern nur nicht ins Wasser geworfen hat’, denkt Lisbeth, ’denn dann wäre er nicht mehr zu retten.’ Sie mag sich gar nicht ausdenken, wie enttäuscht ihr Kleiner sein würde, wenn sie ohne seinen Weihnachtsstern nach Hause kommt.
Trotz der Sorge um Walterli und der Suche nach dem Weihnachtsstern, geniesst Lisbeth nach der hektischen Vorweihnachtszeit den Fussmarsch durch den Neuschnee. Auch wenn ein recht scharfer, kalter Wind über die Weite der Felder zieht. Aber es ist eine sternenklare Nacht und die Ruhe wird nur von Windgeräuschen und dem beruhigenden Plätschern des Flusses begleitet.
Beim Holzwehr schaut sie sich etwas genauer um. Gut sieht sie die kleinen Abdrücke von Walterlis Winterstiefeln im Schnee. Aber weder bei der ersten noch der zweiten Sitzbank, links und recht vom Wehr, findet Lisbeth den Stern. Sie hatte gehofft, dass er durch den Wind vielleicht hinter die Bank oder in das Gebüsch geflogen sein könnte. Aber sie findet nichts.
Bei Lisbeth schwindet nun doch die Hoffnung, mit dem verlorenen Weihnachtsstern nach Hause kommen zu können.
”Vielleicht hat er ihn ja auch schon früher verloren“, macht sie sich wieder etwas Hoffnung und geht weiter zur kleinen Holzbrücke beim Wasserfall.
Dort bleibt sie wie immer etwas stehen. Es ist einer ihrer Lieblingsplätze. Gerne schaut sie in der Mitte der Brücke stehend, einen Moment dem Fluss zu. Es fasziniert sie immer wieder, wie er dort auf der einen Seite breit und ruhig, nichts ahnend auf den Wasserfall zufliesst; sich dann etwas verengt und unter der Brücke gleichmässig über die Kante rinnt. Tosend und mit heftigen Turbulenzen wird er dann tüchtig durchgemischt und mit viel Sauerstoff angereichert. Doch nur wenige Meter später setzt er auf der anderen Brückenseite seinen Weg still und bedächtig weiter fort, als ob nichts geschehen wäre.
‘Fast wie im Fluss des Lebens,’, denkt Lisbeth, ’es gibt immer mal wieder heftige Turbulenzen – man wird kräftig durcheinander gebracht – aber dann geht das Leben einfach um eine Erfahrung reicher weiter.’
Nach einem tiefen Atemzug setzt die junge Frau ihren Weg über die Brücke fort. Kurz darauf sieht sie auf der anderen Flussseite das hellerleuchtete Alterszentrum mit dem Heim und den Alterswohnungen. Die Heimbewohner scheinen gerade beim Nachtessen zu sitzen, der Speisesaal strahlt Gemütlichkeit und behagliche Wärme durch die hell erleuchteten Fenster aus.
Plötzlich glaubt Lisbeth durch das dichte Gebüsch am Wegrand etwas zu hören. Ist es ein Hüsteln, ein Jammern oder weint da gar jemand? Die junge Frau bekommt ein wenig Angst. Jetzt muss sie auch noch den dunklen Weg hinauf zum Schulzentrum gehen und genau von dort oben kam das unheimliche Geräusch. Liesbeth muss jetzt allen Mut zusammen nehmen. Zum Glück hat sie die starke Taschenlampe mitgenommen, die sie nun aus der Manteltasche zieht. Sie leuchtet vor sich auf den verschneiten Kiesweg und nimmt die Steigung in Angriff. Etwas mulmig ist ihr schon.
Nach einigen Schritten kommt sie zu einer weiteren Sitzbank. Dort scheint sich etwas zu bewegen. Lisbeth richtet den Lichtstrahl auf die Bank und sieht eine zusammengekauerte Gestalt in der Kälte sitzen. Ein Gehstock ist an die Bank gelehnt. Es scheint ein alter Mann zu sein, denn manchmal hüstelt er ein wenig; das Geräusch muss von ihm gekommen sein. Aus seiner rechten Manteltasche ragt eine Weinflasche. Neben ihm liegt ein goldgelber Weihnachtsstern.
Lisbeth ist erleichtert. Aber das Gefühl wird schnell von einer gewissen Angst abgelöst. Denn in der dunklen Gestalt erkennt sie den alten Schreinermeister Kneubühler, ein vierschrötiger, etwas mürrischer Mann. Schon immer hat sie sich vor seinem Aussehen etwas gefürchtet und, dass gerade er ihr damals die Illusion vom Christkindes geraubt hatte, machte ihn auch nicht sympathischer.
Mutig geht sie näher.
„Guten Abend, Herr Kneubühler.“
Der Mann richtet einen stumpfen Blick auf sie.
„Ich bin die Lisbeth, die Tochter des Gretler Hannes – des Schmieds.“
Ein undefinierbarer Brummton ist zu hören und nach einer Pause des Nachdenkens sagt er:
„Aha, der Schmied-Hannes – war ein guter Mensch, der Hannes – aber auch schon seit ein paar Jahren weg – ja, so gehts.“
„Darf ich mich kurz zu ihnen setzen?“ fragt Lisbeth.
Der grosse Mann rückt etwas zur Seite.
„Und du bist also die kleine Lisbeth“, der alte Mann macht eine Pause und versucht sich zu erinnern.
„Warst nicht du es damals? – als ich meinte, dein Vater …“
Lisbeth muss lächeln:
„… sei ein Einbrecher“, ergänzt sie freundlich.
„Hast mir leid getan. Hab ja gesehen, wie du erschrocken bist und wie deine Mutter mit den Händen gefuchtelt hat.“
„Ist schon gut“, Lisbeth legt beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm, „es ist lange her.“
Beide schweigen für einen Moment.
„Ich bin auf der Suche nach einem Weihnachtsstern. Mein Sohn hat ihn verloren und wie ich sehe, liegt er vermutlich dort neben ihnen auf der Bank.“
„Kann sein“, kommt es zögerlich, hab ihn gefunden – hinter der Bank am Wehr. Ich mache mir ja nichts aus Weihnachtssternen – aber der Wind, hat ihn zum Wasser getrieben“
„Dann haben sie ihn also gerettet“, wundert sich Lisbeth.
Dankbar drückt sie ihm ein bisschen den Arm.
„Habe mir schon gedacht, dass ein Kind ihn suchen wird“, murmelt der Mann, „aber dort war es mir zu windig …“
„… und darum haben sie hier gewartet?“
Lisbeth ist ganz gerührt. So hat sie den Kneubühler gar nicht eingeschätzt: So lange hier zu sitzen – in der Kälte – wegen einem Weihnachtstern und einem Kind.
Der alte Mann greift nach dem Stern und legt ihn der Lisbeth auf den Schoss.
„Wie heisst denn der Kleine?“
„Walterli.“
Wieder entsteht eine Pause und Lisbeth beginnt zu frösteln.
„Hier können sie nicht sitzen bleiben, Herr Kneubühler“, sagt sie und steht auf.
„Kommen sie, ich begleite sie ein Stück nach Hause. Wohnen sie nicht dort unten in einer Alterswohnung?“
„Walter, genau wie ich.“ Zum ersten Mal huscht ein Lächeln über sein faltiges Gesicht. Der alte Mann greift nach seinem Stock und erhebt sich mühsam von der Holzbank.
„Ich musste einfach raus – überall diese Weihnachten, auf jedem Sender, das ist ja nicht zum Aushalten.“
„Heute ist eben Heilig Abend“, wendet Lisbeth ein.
„Für mich nicht!“, kommt es etwas barsch vom Mann.
„Mögen sie keine Weihnachten?“
„Ich mache mir nichts mehr daraus. Und seit Heidi gestorben ist, erst recht nicht. Zu viele Erinnerungen. Früher gab es wenigstens noch ein gutes Essen und heute? Hocke ich alleine – ich hasse diese Festtage.“
„Haben sie denn niemanden, der zu ihnen schaut, Kinder, Nachbarn oder so?“
„Ach, die einen sind zu weit weg, die anderen haben keine Zeit oder sind irgendwo eingeladen. Das ist doch die dümmste Zeit des Jahres.“
Bald sind sie bei den Alterswohnungen angelangt. Der alte Mann tut Lisbeth leid. Einsam und verbittert wird er nun den Heiligen Abend trostlos und alleine aushalten müssen.
„Es würde mich freuen, wenn sie den heutigen Abend mit uns verbringen würden, Herr Kneubühler.“
„Ach was, das geht doch nicht“, entgegnet der alte Mann mürrisch.
„Anderen Menschen noch zur Last fallen – nein danke, ist schon gut!“
„Sie fallen uns nicht zur Last, Herr Kneubühler. Ich dachte nur – der Walterli – nun ja, er hat eben seinen Grossvater kaum gekannt. Er war noch zu klein, als mein Vater starb. Da dachte ich, dass vielleicht sie …? Ich meine, das wäre doch schön – und nachher gibt es feinen Schinken mit Kartoffelsalat und ein Glas Roten, oder auch zwei. Ich würde sie dann mit dem Auto auch wieder hierher zurückbringen.“
Unsicher schaut sie der alte Mann an. Lisbeth hält seinem Blick stand:
„Es würde mich wirklich freuen; und bestimmt freut sich auch Walterli!“
„Also gut, wegen Walterli - und bei dir habe ich ja auch noch etwas gut zu machen, von früher“, sagt der Mann schmunzelnd; „und, die nehme ich mit für uns alle.“
Damit zieht er die ungeöffnete Weinflasche aus der Manteltasche.
„Mit der wollte ich mich nämlich heute Abend betrinken, aber nun … – Ich muss mich nur rasch etwas 'zwäg machen', kommst du schnell mit hinauf – und gell, nenn mich bitte Walter.“
Bald hat sich Walter rasiert, gekämmt und schön angezogen. Sogar eine Krawatte hat er umgebunden. Lisbeth hat derweilen im gemütlichen Wohnzimmer gewartet. Nun ist es aber höchste Zeit, sich rasch auf den Weg zu machen. Lisbeth hält den verlorenen Weihnachtstern in der Hand und Walter Kneubühler die Weinflasche in einem Sack.
Gemeinsam gehen nun schweigend über den knirschenden Schnee, jeder zufrieden, dass er dem anderen etwas behilflich sein kann. Denn auch Walter freut sich jetzt auf einen gemütlichen Heiligen Abend.
„Den Stern gibst du dann bitte dem Walterli, gell!“, unterbricht Lisbeth die Stille. „Schliesslich hast du ihn gefunden und gerettet. Er wird sich darüber sicher mächtig freuen.“
© Bild von: agnesliinnea / Lizenz: CC0 / by: pixabay
Genau so kommt es. Walterli ist überglücklich, dass Walter den Stern gerettet hat.
Auch der Vater und die Schwester müssen nun sein Kunstwerk bestaunen. Dann bringt der kleine Walterli dem grossen Walter Hammer und Nägel und zusammen hängen sie den goldenen Weihnachtsstern draussen neben die Eingangstüre.
Schon bald glaubt Walterli ein leises Klingeln vernommen zu haben und Walter kann das mit einem Schmunzeln nur bestätigen. Ja wirklich, im 'Stübli' leuchtet der Weihnachtsbaum wunderschön und das Christkindli hat einige Geschenke darunter gelegt. Auch zwei für Walter – Lisbeth hat noch schnell etwas eingepackt.
Es wird ein besinnlicher Heilig Abend. Walter muss sich während der Feier einige Male mit dem Ärmel verstohlen über die feuchten Augen wischen. Beim anschliessenden, gemütlichen Nachtessen wird allerhand besprochen. Auch, dass Walter nun öfters in die Weidmatt zum Essen kommt. Zudem gibt es für den früheren Schreinermeister im alten Bauernhaus allerhand zu flicken. So auch die alte Truhe im Holzschopf. Die könnte er etwas aufmöbeln, damit sie den alten Weihnachtsbrauch auch bei den nächsten Generationen schadlos überdauert.
Lisbeth hat übrigens fest vorgenommen, auch bei Walter nun öfters vorbeizuschauen, wenn sie zum Einkaufen geht. Der früher so gefürchtete Mann ist ihr nämlich in den weihnachtlichen Stunden so richtig an Herz gewachsen.
Copyright Herr Oter (Dezember 2015)
Eine schweizerdeutsche Lesefassung für den privaten Gebrauch
kann auf Anfrage bei mir bezogen werden.
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