.

Samstag, 5. Dezember 2015

Der vergessene Nikolaus



Der vergessene Nikolaus
Eine neue Adventsgeschichte für meine diesjährigen Lesungen 
im Adventskaffee des Altersheims
(Blog-Version)


Im Altersheim 'Abendruh' ist es Tradition, dass die Lehrtochter im letzten Lehrjahr, für den Klausabend verantwortlich ist. Dafür darf sie dann später beim Nachtessen mit der Heimleitung, der Dorfpräsidentin und neben dem Nikolaus am Ehrentisch sitzen.
In diesem Jahr hat es für diese Aufgabe Monika getroffen, eine schüchterne, junge Frau, die aber immer ihr Bestes gibt.

Mit viel Eifer geht sie frühzeitig an die Vorzubereitungen. Sie plant mit der Aktivierung die Tischdekoration, bestellt mit der Chefin die Geschenke für die Bewohner, spricht mit dem Küchenchef das 'Samiklaus-Menu' ab und kreiert für das Büro die Menukarten. Bald werden die Einladungen an die Bewohner und die Angehörige verschickt. Am ersten Dezember ist Monika mit ihren Vorbereitungen ganz zufrieden, nun kann eigentlich nichts mehr schiefgehen. Nur noch das Nikolauskleid muss sie aus dem Keller holen …

Der Nikolaus! - Monika fährt der Schreck in alle Glieder, ihr wird fast schwindlig – hat sie doch tatsächlich vergessen, den Nikolaus zu bestellen. Schnell ruft sie bei Max Huber an. Der hat in den letzten Jahren immer den Nikolaus gemacht.
„Er könne nicht, er sei im Spital“, hat man ihr ausgerichtet.
Nun versucht es Monika bei der St.-Nikolaus-Gesellschaft.
Aber, oh Schreck, «sie sei viel zu spät! – alle Kläuse in der Region seien schon längst ausgebucht.»
Monika hätte heulen können. Nun hat sie sich so viel Mühe gegeben und das Wichtigste doch vergessen.
Wo soll sie jetzt nur einen Nikolaus hernehmen?
Die arme Monika kann ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

„Weinst  Du?“
Frau Heinrich, ihre Lieblingsbewohnerin, steht unter der Bürotüre.
„Nein“, schluchzt Monika und legt den Kopf verschämt auf die verschränkten Arme.
„Ja, das sehe ich“, sagt Frau Heinrich mit einem gütigen Lächeln, „darf man eintreten?“
Das unverständliche Gemurmel deutet Frau Heinrich als ein Ja und schon trippelt sie mit dem Rollator zum Bürotisch. Sie streicht Monika sanft über die Haare.
„Aber, aber, so schlimm wird es schon nicht sein – Liebeskummer?“
„Nein, keinen Samiklaus“, schluchzt die jungen Frau in ihre Arme.
„Komm Mädchen, erzähle …“

Kurz darauf hat Frau Heinrich die ganze Tragödie erfahren und zum Glück auch gleich eine Lösung bereit.
Es ist eben diese praktische und positive Lebenshaltung, die Monika und viele andere im Heim an der alten Dame so sehr schätzen.
Dazu ist sie immer hilfsbereit, freundlich und höflich, auch wenn sie recht direkt sein konnte, wenn es notwendig scheint.

„Schau, Liebes“, sagt Frau Heinrich, „ich habe einen Enkel, nur wenig älter als du. Der arbeitet im Büro eines grossen Einkaufzentrums. Dort hat er auch schon den Samiklaus 'gemacht', für die vielen Kinder am Nachmittag.
Ich werde den Johannes heute Abend anrufen und ihn bitten, dass er uns in dieser schrecklichen Situation aushelfen soll.“
„Oh, danke Frau Heinrich, sie sind einfach die Beste.“
Schnell wischt sich Monika die Tränen aus den Augen und drückt Frau Heinrich ganz fest.
„Meinen sie, das er das macht?“
Monika kommen schon wieder Zweifel.
„Ich denke schon“, beruhigt sie Frau Heinrich. „Der Johannes ist ein ganz Lieber. Der kommt eben ganz nach mir …“, sagt sie mit einem verschmitzten Lächeln.

Und wirklich, Johannes ist einverstanden.
«Er habe zwar am Nachmittag noch einen 'Auftritt' im Center, und es werde ziemlich knapp mit der Zeit – es seien immerhin dreissig Kilometer mit dem Auto. Aber dafür sei er dann bereits auch schon angezogen und er werde sich natürlich beeilen. – Für seine Grossmutter mache er doch alles möglich.»
Monika fällt jetzt ein grosser Stein vom Herzen und dafür gibt sie Frau Heinrich einen dicken Kuss auf die Wange.
Nun kann der sechste Dezember ja getrost kommen.

Und er kommt! Aber wie …!
Bereits am Mittag beginnt ein fürchterlicher Schneesturm. Am Nachmittag ist das Schneechaos auf den Strassen perfekt. Johannes informiert am frühen Abend seine Grossmutter, dass er auf der Autobahn feststeckt. Nichts geht mehr. Vielleicht schafft er es noch zu ihnen, aber sicher nicht zur abgemachten Zeit.
Für Monika bricht eine Welt zusammen. Die Bewohner und Angehörigen warten schon ungeduldig im Speisesaal. In einer Viertelstunde sollte der Nikolaus auftreten.
Was soll sie jetzt nur machen?

Wieder hat die gute Frau Heinrich eine Idee.
„Wo ist die Samiklaus-Kutte, die der Huber Max jeweils trägt?“
„Im Keller, ihr Enkel wollte ja bereits angezogen kommen“, schnieft Monika.
„Geh schnell und hole sie!“
Frau Heinrich ist nun als ehemalige Geschäftsfrau voll in ihrem Element.
„Und vergiss den Bart, den Bischofsstab, das grosse Buch und die Rute nicht.“

„Aber, aber Frau Heinrich, ich kann doch nicht… Hicks!“
Die arme Monika bekommt vor Schreck den Schluckauf.
Frau Heinrich muss lachen: „Nein, so kannst du wirklich nicht, mit dieser Stimme …, – und zudem ist sie auch viel zu fein für einen Samiklaus – und die Kutte viel zu weit, für so eine zarte Person, wie du es bist. Ich werde die Sache selber übernehmen müssen. Ich kann dich doch jetzt nicht im Stich lassen.“
„Aber Frau Heinrich! – ein Samiklaus mit einem Rollator – das gibt es auf der ganzen Welt nirgends“.
„Wir werden ja sehen“, meint Frau Heinrich energisch, „und vergiss die Stiefel nicht!“

Blitzschnell ist alles ins Büro geschafft. Der Hauswart hat mit angepackt.
„Sie könnten doch, Herr Müller …“, versucht Frau Heinrich dem Ganzen noch zu entkommen. Aber der fuchtelt mit den Armen, stottert etwas von dringender Schneeräumung und macht schnell auf dem Absatz kehrt.
So wird Frau Heinrich wohl nichts anderes übrig bleiben, als selber in die viel zu grossen Stiefel zu steigen.
Da hat sie noch eine Idee:
„Halt, halt!“ ruft sie in scharfem Ton.
Erschrocken bleibt der Hauswart wie angewurzelt stehen.
„Ihren Mantel und die Zipfelmütze, bitte, Herr Müller.“
Fordernd streckt Frau Heinrich die Hand aus.
Der Hauswart ist froh, dass es nur das ist und zieht schnell die geforderten Sachen aus, und – schon ist er weg.
„Bevor die Alte noch auf weitere dumme Gedanken kommt“, murmelt er halblaut.

Mit zehnminütiger Verspätung schreitet ein etwas zu kurz geratener Nikolaus würdevoll in den Speisesaal des Altersheims. Gestützt auf der einen Seite von einem viel zu langen Bischofsstab und auf der anderen Seite von einem schmächtigen 'Schmutzli' im viel zu langen, schwarzen Mantel des Hauswartes und mit seiner Zipfelmütze auf dem Kopf. Mit dem vielen Russ vom Cheminée ist das Gesicht von Monika nicht mehr erkenntlich.
Auf dem Rücken trägt sie einen grossen Sack mit den Geschenken.


„Guten Abend“, begrüsst eine tiefe, feste Stimme die wartenden Bewohner und schnell ist es ehrfurchtsvoll still im Saal.
„Entschuldigung für die kleine Verspätung, aber die Anreise war mit grossen Schwierigkeiten verbunden und sehr anstrengend. Ich muss mich gleich ein wenig setzen.“
Während sich der Nikolaus auf einen eiligst herbeigebrachten Sessel setzt, tuscheln die Bewohner lebhaft, wer wohl dieser Samiklaus sei, er wirke anders als die Jahre zuvor. Nicht einmal die Heimleitung hat eine Ahnung, wer es sein könnte.

Nun nimmt der alte Mann mit dem grossen, weissen Bart bedächtig sein grosses Buch zu Hand.
„So, so, wen haben wir denn da?“
Der Nikolaus blickt streng durch seine viel zu grossen Brillengläser in die Runde.

„Schau dort, Frau Nievergeld, sie strickt immer so fleissig, hat man mir gesagt. Das höre ich natürlich gerne, nur weiter so Maria. Vielleicht gibt es ja einmal ein paar warme Socken für den Samiklaus.“
Etwas zaghaft wird geklatscht.

„Aha und dort, Frau Marquart! Ich habe gehört, dass sie ihren Rollator immer mitten in der Cafeteria stehen lassen. Das stört die anderen. Ihr seid doch noch ganz gut zu Fuss - also könnten sie ihn bitte etwas mehr zur Seite stellen?“

„Dafür sollte Frau Meierhans den Rollator öfters benützen, sie ist ja schon zweimal gestürzt. Das ist doch wirklich keine Schande, so ein Rollator, Frau Meierhans. Ich brauche manchmal auch einen …“
Monika muss sich ein Lachen verkneifen.

„Und der Herr Dumermuth, flucht immer lautstark beim Jassen. Aber, aber, das ist nicht schön! So kommt man nicht in den Himmel, Herr Dummermut!“

„Und hier, Schwester Martina, sie hat immer genug Zeit für die Bewohner. Das ist genau das, was es braucht für diesen Beruf, viel Geduld und Einfühlungsvermögen, Bravo Schwester Martina.“
Heftig wird nun applaudiert.

„Und dort der Seppetoni! Er nimmt immer die Hauszeitungen mit aufs Zimmer. Das geht doch nicht, die Anderen möchten ebenfalls die Zeitungen lesen. Also, die Zeitungen vom Haus sind für alle da, und bleiben in der Cafeteria. Hast du verstanden Seppetoni?“
Der verspricht, sich zu bessern und Monika wundert sich, was ist aus der höflichen und zurückhaltenden Frau Heinrich geworden ist.

„Und dort, Schwester Marianne, sie telefoniert oft mit ihren Kolleginnen, während sie den Bewohnern das Essen eingibt – was ist das auch für eine Arbeitseinstellung, Marianne!“
Die Schwester bekommt einen hochroten Kopf.

Jetzt ist Frau Heinrich so richtig in Fahrt. Die Blätter der Pflege im grossen Buch, mit den allgemein gültigen Sprüchen für den Nikolaus, braucht sie nicht. Endlich kann sie einmal alles loben was ihr hier gefällt und tadeln was sie stört. Keinen lässt sie aus, nicht einmal die Heimleitung und sogar der Chef muss sich Lob und Tadel anhören.
Ständig wird der Nikolaus von Applaus unterbrochen – denn er hat einfach recht. Was er sagt, das denken die Meisten hier. So einen guten Nikolaus hatten sie also noch nie. Man fragt sich, wer denn so genau Bescheid über jeden im Altersheim wissen kann.
Währenddessen verteilt der 'Schmutzli', also Monika, fleissig die Geschenke – jeder bekommt eines. Sie ist überglücklich, dass die Bewohner so eine grosse Freude an 'ihrem' Nikolaus haben. Auch die Heimleitung und ihre Chefin gratulieren ihr mehrmals zu ihrer perfekten Organisation und der guten Auswahl des Nikolauses.

Später sitzen sie alle beim gemeinsamen Nachtessen. Natürlich sitzt Frau Heinrich am Ehrentisch neben der strahlenden Monika. Die Erleichterung ist beiden anzumerken und Monika legt ab und zu dankbar den Arm um ihre liebste Bewohnerin. Frau Heinrich wird immer wieder zu ihrer Rolle als Nikolaus beglückwünscht.
Niemand hätte gedacht, dass diese charmante, alte Dame ein so überraschendes Talent besitzt.
„Aber das war ein einmaliger Auftritt, dass das klar ist! Das habe ich nur für Monika gemacht!“
Dabei drückt sie liebevoll Monikas Arm.

Plötzlich wird die Türe aufgerissen und ein zweiter Weihnachtsmann stürmt in den Speisesaal.
„Entschuldigung, Entschuldigung!“, keucht er, „ich bin im Schnee stecken geblieben!“
Grosses Gelächter und ein warmer Applaus begrüssen den verspäteten Nikolaus. Natürlich wird auch er zum Nachtessen eingeladen. Frau Heinrich besteht darauf, dass er, nachdem er Bart und Verkleidung ausgezogen hat, neben Monika und nicht neben seiner Grossmutter sitzt.
Die junge Frau ist stolz, dass sie neben diesem gut aussehenden Mann sitzen darf und dabei erntet sie manchen neidischen Blick. Die Beiden unterhalten sich prächtig und Frau Heinrich ist das mehr als nur recht. Sie spürte schnell, dass zwischen den beiden mehr sein muss, als nur eine Lehrtochter in Not und ein zu später Nikolaus-Ersatz.

© Copyright by Herr Oter  (Dezember 2015)


Eine schweizerdeutsche Lesefassung für den privaten Gebrauch, 
kann auf Anfrage bei mir bezogen werden.




 © Bild von: geralt / Lizenz: CC0 by: pixabay



:)

2 Kommentare :

T.O. and O. hat gesagt…
Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.
Herr Oter hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.