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Freitag, 25. Dezember 2015

Heiligabend am Waldrand





Heiligabend am Waldrand


Ich stehe am Fenster unserer warmen Stube und schaue von oben dem emsigen Treiben auf der verschneiten Dorfstrasse zu. Schmal schlängelt sie sich zwischen den dicken Hausmauern unseres kleinen Bergdorfes hindurch. Durch den vielen zusammengestossenen Neuschnee ist sie noch etwas schmaler geworden. Jetzt, am späteren Nachmittag vor Heiligabend, ist sie aussergewöhnlich bevölkert. Denn die Ferienhäuser der neuen Siedlung am Dorfrand sind alle belebt und auch das kleine Hotel ist über die Festtage jeweils restlos ausgebucht.
Darum herrscht überall Hochbetrieb; so auch im kleinen, aber gut sortierten Laden in der Dorfmitte oder bei der rundlichen Bäckersfrau mit dem knusperigen Holzofenbrot. Und natürlich auch beim alten Flurin, der zwar seinen siebzigsten Geburtstag schon einige Jahre hinter sich hat – seine Metzgerei aber nicht aufgeben mag, weil er keinen Nachfolger findet.
„Wo sollen denn die Leute meine feinen Würste kaufen, wenn es keine Metzgerei mehr gibt“, pflegt er jeweils mit einem Schmunzeln zu sagen.

Die abendliche Dämmerung nimmt zunehmend von der Strasse Besitz, auch wenn sich das kalte Weiss dagegen wehren möchte. Zum Glück spenden inzwischen die wenigen Strassenlaternen zusätzlich ein spärliches, aber irgendwie tröstliches Licht. Dem Tourismus zum Trotz, hat man hier vernünftigerweise auf eine kitschige Weihnachtsbeleuchtung verzichtet – der Weitsicht des alten Flurin sind die meisten heute noch dankbar.

Ein wohliges Gefühl hat sich in mir breit gemacht. So etwas wie Weihnachtsstimmung, wer hätte das vor wenigen Jahren gedacht. Wir sind erst vor drei Jahren, nachdem ich das Geschäft meinem Sohn übergeben konnte, in dieses Haus meiner Eltern eingezogen. Ein schmales, aber solides Häuschen, das vor mehr als zweihundert Jahren ebenfalls mit Weitsicht gebaut wurde. Denn es soll Generationen beherbergen. In diesem Haus fühle ich mich wieder richtig daheim.
Ich mag das einfache Leben in diesem Bergdorf. Ich bin glücklich, weit ab von der Stadt und vom Geschäft zu sein. Mein Sohn macht das gut, da lass ich ihm freie Hand, ich bin froh, habe ich hier meine Ruhe. Nun geht es ihm, wie es Jahrzehnte lang mir gegangen ist. Weihnachten findet an einem kurzen Abend statt und kaum ist man aus dem Büro, sitzt man schon wieder drin. Ich bin froh, dass ich das hinter mir habe und freue mich auf die gemütlichen zwei Abende in unserem Häuschen auf dem Maiensäss.

Plötzlich erklingt von der Strasse herauf, das Weihnachtslied “Stille Nacht, heilige Nacht”. Ich erkenne es an der Melodie - dem dünnen Gesang einer Frauenstimme, begleitet von den hohen Tönen einer Flöte. Die Worte sind hier oben im dritten Stock durch die dicken Fensterscheiben nicht zu verstehen.
Zuerst meine ich, das Lied komme aus einem Musikgerät, doch zu laienhaft ist der Gesang und auch die Flöte trifft nicht immer jeden Ton ganz genau. Ich öffne das Fenster um besser sehen und hören zu können. Ein scharfer, kalter Wind bläst mir sofort ins Gesicht. Meine Augen suchen die gegenüberliegende Strassenseite ab und entdecken unweit rechts, zwei nahe zusammenstehende Gestalten. Das leichte Wippen ihrer dunklen Umhänge lässt darauf schliessen, dass die weihnachtliche Musik von ihnen stammt. Meine Augen gewöhnen sich rasch an die Dunkelheit und ich erkenne eine ärmlich gekleidete Frau, die sich zum Schutz gegen die Kälte ein wollenes Tuch um den Kopf gewunden hat. Ihr dünner Umhang ist vor der Brust stark gewölbt, als ob sie einen Sack oder eine Umhängetasche darunter tragen würde.


Neben ihr steht ein Mann.
Er wirkte noch recht jung und hat sich eine schwarze Pudelmütze über den Kopf gezogen. Seine übrige Kleidung scheint keinen besonderen Schutz gegen die eisige Kälte zu bieten. Er spielt mit klammen Fingern auf einer einfachen, kurzen Hirtenflöte. Kein Wunder, dass er nicht jeden Ton sauber trifft. Hinter ihnen scheint eine Art Reisetasche an der Hauswand zu liegen.
Vor ihnen entdecke ich nun auch einen kleinen Pappkarton, der auf der Strasse liegt – bereit, gespendete Münzen entgegenzunehmen. Ich beuge mich etwas vor und sehe, dass ausser drei, vier Kindern, die an unserer Hauswand lehnen, niemand den beiden zuhört. Alle haben keine Zeit, sind gestresst durch die bevorstehenden Festtage und den damit verbundenen grossen Erwartungen.

Mir scheint, als hätte die Frau soeben kurz zu mir hinaufgeschaut.
Mich fröstelt und so schliesse ich schnell wieder das Fenster. Dann lösche ich das Licht im Wohnzimmer, damit ich die beiden besser beobachten kann. Nimmt mich doch Wunder, wie viel Umsatz so eine kleine Schachtel auf dem Boden einbringen kann.
Doch niemand wirft etwas hinein. Alle hasten vorbei. Kaum jemand hebt einmal den Kopf, denn jetzt hat es auch noch zu schneien begonnen. Alle starren sie auf den Boden und stolpern manchmal trotzdem beinahe über die Schachtel. Ein ärgerliches Hindernis im Fluss der Weihnachtshektik.


Immer wieder blickt die Frau nach oben.
Ich vermute, dass sie mich vielleicht sehen kann. Beschämt ziehe ich die Vorhänge zu, bleibe aber wie gebannt vor dem Fenster stehen. Inzwischen singt sie bereits das dritte Weihnachtslied: 'Macht hoch die Tür, die Tor macht weit!'
Aber niemand öffnet sein Fenster oder kommt aus dem Haus, um der frierenden Strassensängerin ein Almosen zu geben oder sie in die Wärme einzuladen.
Die persönliche Wichtigkeit, die eigenen vermeintlichen Sorgen und die geschäftige Heftigkeit haben die Menschen abgestumpft für die Not ihrer Mitmenschen. Niemand erbarmt sich der beiden Armen dort unten in der Kälte.
Vielleicht stehen noch andere, so wie ich, verborgen hinter Vorhängen auf der warmen Seite am Fenster und denken: ‘Sollen doch die dort unten, die Vorbeigehenden, etwas geben. Die Schachtel steht ja vor ihnen.’

Mir scheint, dass die Frauenstimme immer lauter und eindringlicher klingt und, dass die Flöte immer schriller in mein warmes Wohnzimmer dringt. Und immer wieder schaut diese Frau zu unserem Fenster hinauf – mir wäre lieber sie würde endlich aufhören zu singen und gehen. Sollen sie doch einsehen, dass hier, in unserem friedlichen Bergdorf nichts zu holen ist. Sollen sie doch in die Städte gehen und dort betteln, nicht hier in unserer heilen Welt.

Doch unermüdlich singt die Frau weiter und nun stimmt auch der Mann noch mit ein:
'Oh du fröhliche, oh du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit'.
Viel zu laut, die Männerstimme! Brüchig, rau, fast etwas trotzig, wie mir scheint. Wie viel schöner war es doch, als nur die Frauenstimme gesungen hat und er dafür in die Flöte blies.
Ich wende mich vom Fenster ab, ich habe genug von dem Weihnachtsspektakel da draussen. Was bin ich froh, dass ich mir das Ganze nicht mehr antun muss – haufenweise unnötige Geschenke, wo doch so viele kaum etwas haben. So viele, üppige Festessen, angesichts dieser vielen Hungernden. Nein, damit will ich nichts mehr zu tun haben! Das ist doch reiner Unsinn oder ist es einfach mein schlechtes Gewissen?

Ich gehe zur Küche, um zu sehen, ob Madlaina inzwischen alles für die Hütte eingepackt hat. Viel braucht es ja nicht, etwas Gemüse, ein paar Zwiebeln, ein rechtes Stück Speck – Gerste für die Suppe hat es sicher noch oben. Und morgen machen wir ein gemütliches Fondue.
Ich bin froh, dass wir punkto Weihnachten gleicher Meinung sind und auch sie sich auf diese zwei gemütlichen Tage ohne Hektik und Stress freut.
Die beiden Rucksäcke stehen in der Küche bereit, also höchste Zeit die warmen Winterstiefel anzuziehen.

Da klingelt es an der Haustüre.
Wer kommt denn jetzt noch, denke ich leicht verärgert und schliesse auf.
Da fährt mir der Schreck in alle Glieder!
Draussen steht die Frau, die auf der Strasse unten die Weihnachtslieder gesungen hat.
Instinktiv will ich die Türe gleich wieder schliessen. Aber die linke Hand, die das tun soll, ist wie gelähmt. Stocksteif stehe ich in der Türe und schaue in zwei sonderbare Augen. Augen wie ich sie noch nie gesehen habe – voller Warmherzigkeit und Güte. Ein Blick, der sofort den Weg in mein Herz findet.
Die Frau sagt kein Wort, nur ihre Augen sprechen zu mir. Ich kann meinen Blick nicht abwenden. Mir ist, als sähe ich in eine andere Welt! Ein Garten Eden der vollkommenen Liebe und Harmonie – ja, ich habe ins Paradies gesehen.

Ich muss den Blick senken, soviel Sanftmut und Wärme ist kaum zu ertragen. Nun sehe ich auch, was die Frau im leicht zurückgeschlagenen Umhang vor der Brust trägt. Ein Baby in einem Umhängetuch. Das trotz der eisigen Kälte etwas gerötete Köpfchen ruht auf ihrer Brust. Es mag vielleicht ein Jahr alt sein und scheint zu schlafen.
Mechanisch wandert meine rechte Hand zur hinteren Hosentasche und zieht den Geldbeutel hervor. Mist, ich habe nur zwei 50er-Noten. Etwas zögerlich trenne ich mich von einer.
„Danke“, sagt eine feine Stimme. Ich schaue wieder hoch und erfasse nun das ganze Gesicht. Es ist jung und hübsch, etwas fahl und ziemlich bleich mit blaugefrorenen Lippen. Doch umso faszinierender sind diese warmherzigen Augen.
„Danke, danke viel“, stammelt die junge Frau nochmals in gebrochenem Deutsch.

Nun scheint der Bann gebrochen und ich schliesse ohne ein Wort schnell die Türe. Mein Herzschlag hat sich erhöht, ich muss mich kurz am Türrahmen festhalten. Ich frage mich, warum ich mich etwas schäme.

„Wer war es“, ruft Madlaina aus dem Schlafzimmer. Ich atme tief durch:
„Eine Bettlerin!“ sage ich mit möglichst gleichgültiger Stimme.
„Ach, haben wir die nun auch schon da oben bei uns? Die nutzen doch einfach die Freigiebigkeit der Menschen in der Weihnachtszeit aus. Hast Du etwas gegeben?“
„Ja, ein wenig“, gebe ich zur Antwort und wundere mich gleichzeitig, dass ich etwas gegeben habe. Vielleicht liegt es doch am heutigen Tag.




 © Bild von: werner22brigitte  / Lizenz: CC0  / by: pixabay


Wenig später waten wir mit den Stöcken durch den kniehohen Neuschnee dem oberen Waldrand entgegen. Der Schneefall hat inzwischen aufgehört und die Wolken haben dem Sternenhimmel Platz gemacht. Das Häuschen liegt wenig unterhalb der kaum noch befahrenen alten Passtrasse, die nach Italien führt. Auch wenn das 'Maiensäss' bequem mit dem Auto erreichbar wäre, gehen wir doch meistens zu Fuss hinauf. Die Wegstrecke von gut einer Stunde ist zu jeder Jahreszeit einfach faszinierend. Besonders auch in einer dunklen Winternacht mit Vollmond ist die Aussicht auf das Dörfchen im Tal unten besonders anmutig.

Ich habe das gemütlich ausgebaute Bauernhaus vor Jahren von meinen Eltern geerbt, es immer gut im Schuss gehalten; doch erst in den letzten Jahren so richtig schätzen gelernt. Seit der Pensionierung verbringen wir immer öfter Zeit hier oben, weit ab von der Zivilisation. Wir lieben das gesunde, einfache Leben in der Natur immer mehr. Die saubere Luft, das frische Wasser, die Ruhe und die grandiose Aussicht in die Bergwelt ist durch nichts zu ersetzen.
Im Sommer haben wir im ehemaligen, kleinen Schafstall neben dem Haus tüchtig Brennholz aus unserem Waldstück aufgefüllt und schon bald wird ein gemütliches Feuer im Herd uns eine herrliche Gerstensuppe bescheren und der unvergleichliche Duft, der im Ofenrohr schmorenden Bratäpfel wird durch das ganze Häuschen ziehen. Zufriedenheit mischte sich mit gemütlicher Behaglichkeit und diese wahrhaftige Feststimmung brauchte keine weiteren Geschenke. Heiligabend, wie ich es mir schon immer insgeheim gewünscht habe.

Bereits haben wir das dunkle, untere Waldstück hinter uns gelassen und stehen nun vor der weiten, weissen Fläche des oberen Maiensässes. Bereits meine Grosseltern haben die Matten verkauft, nur die beiden Gebäude dort oben, haben sie behalten. Zum Glück, so etwas wäre heute unbezahlbar. Das Weiss des Schnees reflektiert das Vollmondlicht und es ist fast taghell. Ich schaue den Hang hinauf. Wie unheimliche, riesige Schatten stehen die hohen Tannen oben an der Gebirgsstrasse. Darunter duckt sich unser Häuschen an den Waldrand, als ob es dort Schutz suchen würde. Daneben, der ehemalige Stall, der nebst dem Brennholz auch Platz für eine kleine Werkstatt bietet. Das ist mein kleines persönliches Reich, in dem ich mich im Sommer stundenlang beschäftigen kann.
In einer Viertelstunde sind wir oben.

Mir ist, als ob ich gerade eine flüchtige Bewegung neben dem kleinen Stall gesehen hätte, aber das ist unmöglich. Niemand kommt hierher, sowieso nicht im Winter. Zudem hinterlassen wir beide gerade die ersten Spuren im unberührten Neuschnee der grossen Waldlichtung.
Und doch, je näher wir uns unserem kleinen Paradies nähern, desto mehr habe ich das Gefühl, als ob etwas nicht wie gewöhnlich ist.
Kleine helle Punkte an der Holzwand des Schopfes werden sichtbar. Glühwürmchen im Winter? Nein, Licht das durch die feinen Ritzen dringt.

„Madlaina, schau mal“, sage ich. „Ist da jemand im Holzschopf?“
Ich nehme die beiden Gehstöcke etwas fester in die Hand.

„Hallo, ist das jemand“, rufe ich, sobald wir die kurze, ebene Fläche vor den beiden Gebäuden betreten. Sofort verschwinden die Lichtpunkte an der Hüttenwand. Nichts rührt sich. Mit dem ausgestreckten linken Arm bedeute ich Madlaina, dass sie zurückbleiben soll, während ich den gewichtigen Rucksack in den Schnee gleiten lasse und die Taschenlampe aus der Jacke ziehe. Langsam gehe ich auf die Stall­türe zu, den einen Wanderstock wie eine Stichwaffe vor mich herhaltend.
Nochmals rufe ich „Hallo“, nicht zuletzt um mir mit meiner eigenen Stimme etwas Mut zu machen. Nun ist ein leises Wimmern zu hören.

Nur zögernd öffne ich die Türe, jederzeit gewahr, dass ein Tier oder gar ein Ungeheuer herausschiessen könnte. Mit der starken Taschenlampe zünde ich ins Innere. Zwei Menschen mit angstvoll aufgerissenen Augen starren mich an und ich erblickte die gleichen Augen, die mich auch schon am Nachmittag in ihren Bann gezogen hatten. Da sitzt starr vor Schreck die Bettlerin mit ihrem Mann am alten Holztisch. Die beiden halten schützend einen Arm vor das Gesicht, weil meine Taschenlampe sie blendet. Ich senke den Lichtstrahl zum Tisch. Dort liegt mein alter Militärmantel und darin vermute ich das Baby. Instinktiv ergreift die Frau das Bündel und drückt es an sich.
Der Mann steht auf und stellt sich mit einem dicken Stock in der Hand, schützend neben seine Frau.
Dieses Bild erfasst sofort mein Herz.
Wie Josef und Maria im Stall!



 © Bild von: 683440  / Lizenz: CC0  / by: pixabay  

Hinter mir spüre ich Madlaina, die nun ebenfalls unter der Türe steht.
„Oh, Hallo“, sagt sie mit ruhiger Stimme und macht einen Schritt vorwärts. Ihre Anwesenheit löst sofort die Spannung und macht einer gespannten Aufmerksamkeit Platz.
„Hallo, wer sind sie?“ fragt Madlaina mit sanfter Stimmung.
„Die Bettlerin“, raune ich ihr zu und ziehe meine Mütze vom Gesicht.
Sofort entspannt sich das Gesicht der jungen Frau, was auf ein Wiedererkennen schliessen lässt. Schnell flüstert sie einige unverständliche Worte zu ihrem Mann, worauf er sich ermattet wieder auf die Bank setzt.
Madlaina geht zu der Frau hin, legt einen Arm um Ihre Schultern und deutet auf meinen grünen Filzmantel:
„Baby“?
Die junge Frau nickt und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.
„Kommen sie“, sanft schiebt Madlaina die beiden in Richtung Türe.

Der junge Mann beobachtet mich weiterhin misstrauisch.
„Hallo, ich bin Andri.“
Mit ausgestrecktem Arm bewege ich mich auf ihn zu. Er steht sofort auf, streckt mir seine Hand entgegen und stammelt etwas, das sich wie Farid anhört.
„Sprechen sie Deutsch, Englisch, Italien?“ frage ich.
„Yes, Englisch…..“, sagt mein Gegenüber.
„Ok, let us also go into the house – to the women. But first, I need some firewood.
Hilfsbereit hilft der junge Mann mit, gespaltenes Holz in einen Weidenkorb zu legen.
Ich versorge noch schnell unsere Wanderstöcke. Während ich die beiden Rucksäcke schultere, hebt der Fremde den schweren Korb hoch, um ihn ins Haus zu tragen,.
Dann wirft er einen Blick auf die kleine Reisetasche, die noch auf der Bank steht.
„That's OK“, sage ich und mache eine beschwichtigende Handbewegung, dass er sie dort stehen lassen soll. Auch ein weisser Plastiksack und eine ausgeblasene, dicke Kerze bleiben auf dem Tisch zurück.

Im Haus brennt bereits ein kräftiges Feuer im Herd und wärmt langsam den Wohnraum. Die fremde Frau sitzt auf dem Sofa und hält sich das Baby unter ihrem Umhang an die Brust. Farid setzt sich neben sie.
„Nun wollen wir erst einmal die Gerstensuppe zum Kochen bringen.“
Madlaina hat bereits Zuhause das Gemüse und die Zwiebeln kleingemacht und schon bald wird ein herrlicher Duft die Küche durchziehen.
„Hungry?“ frage ich und die beiden nicken heftig.

Jetzt steht Farid auf und geht aus dem Haus. Bald kommt er mit dem weissen Plastiksack von der Bäckerei im Dorf zurück und packt ein grosses, knusperiges Brot und eine dicke Wurst aus.
Geld konnten die beiden mit ihrem Gesang kaum sammeln, es reichte gerade mal für ein paar Kerzen. Aber wenigstens der alte Flurin hatte mit ihnen Mitleid und kam mit der grossen Wurst aus dem Laden. Schnell hatte er die Bäckersfrau davon überzeugt, dass auch zur besten Wurst, viel Brot gehört.

Mit einer einladenden Handbewegung und einem „Please“ zeigt Farid nun an, dass er uns zum Mitessen einladen möchte. Und weil die Suppe schon noch eine Stunde auf dem Holzherd köcheln sollte, stillen wir gerne inzwischen den ersten Hunger mit Wurst und Brot.
So sitzen wir schon bald zu viert um den Tisch. Die kleine Myriam liegt gut versorgt in unserem grossen Bett und schläft.

Die anfängliche Scheu legt sich schnell.
Wir erfahren von einem grässlichen Krieg im Heimatland, von einer beschwerlichen Flucht voller Entbehrungen, die bereits über anderthalb Jahre dauert. Von Gefängnis und Geiselnahme, von Schutz-, Schmier- und Schleppergeldern und einer schier endlosen Aneinanderreihung von widerlichsten Umständen.
Aber sie erlebten auch Schönes: Die Geburt ihrer Tochter vor zehn Monaten; den Unterschlupf, den sie in den ersten drei Monaten danach bei einer wildfremden, einfachen Familie fanden und immer wieder Solidarität von herzensguten Menschen.

Der letzte Schlepper hat sie dann für viel Geld auf der Passstrasse soweit gefahren, wie es der Neuschnee zuliess. Nachdem er mit dem ausgestreckten Arm auf das verlassene Zollhäuschen hoch oben auf dem Berggrat gezeigt hatte, ist er schnell verschwunden und hat sie alleine zurückgelassen. Zu Fuss haben sich die Beiden auf der tiefverschneiten Passtrasse über die Grenze gekämpft und sind dabei auf unser Häuschen gestossen. Weil der alte Stall unverschlossen war, suchten sie dort gestern Abend Unterschlupf. Aber die Kleine bekam hohes Fieber und so wagten sie sich heute in unser Dorf. Mit meinen fünfzig Franken bezahlten sie die Medikamente, für unseren längst pensionierten Doktor reichte das Geld jedoch nicht mehr. Zum Glück hatte er grosszügig auf sein Honorar verzichtet. Wie es nun weiter gehen soll, das wissen sie nicht.

Wir reden noch lange, bis weit nach Mitternacht. Nahla ist irgendwann auf dem Sofa eingeschlafen. Doch Farid scheint froh zu sein, endlich einmal jemandem sein Schicksal erzählen zu können; ich glaube er vertraut uns.

Wir beschliessen, den beiden unser Bett zu überlassen, damit die Kleine nicht geweckt werden muss. Madlaina und ich schlafen auf den Etagenbetten im Zimmer nebenan. Morgen werden wir ins Dorf hinunter gehen um genügend Esswaren, Kleider und Sachen für das Baby zu holen, damit die junge Familie vorerst einige Tage in unserem Häuschen wohnen kann. Sobald die Festtage vorbei sind, werde ich alles unternehmen, dass sie in unserer Gemeinde  wohnen bleiben können. Sie werden die ersten Flüchtlinge im Bergdörfchen sein und es braucht bestimmt viel Überzeugungskraft bei den alteingesessenen Dorfbewohnern. Aber drei Verbündete haben wir bereits, den alten Doktor, die Bäckersfrau und natürlich Flurin – dem alten Metzgermeister vertrauen die Leute.
Ich freue mich darauf, etwas Sinnvolles und Nützliches tun zu können, um den Beiden zu helfen.
Denn Dank ihnen habe ich zum ersten Mal erfahren, was Heiligabend und Weihnachten wirklich ist.

© Copyright by Herr Oter  (Dezember 2015)




Ich wünsche allen schöne Festtage.


:)

Mittwoch, 23. Dezember 2015

Der verlorene Weihnachtsstern





Der verlorene Weihnachtsstern
Die vierte und letzte Adventsgeschichte für meine diesjährigen Lesungen
im Adventskaffee des Altersheims
(Blog-Version)



Lisbeth ist gerade an den letzten Handgriffen am schön geschmückten Christbaum, als sie die gellenden 'Mama-Mama'-Rufe des kleinen Walterli hört.

‘Endlich ist er Daheim’, denkt Lisbeth.
Ihr Haus liegt etwas ausserhalb des kleinen Land-Städtchens und ihre Kinder haben darum einen recht langen Schulweg. Beim neugierigen Walterli dauert es oft noch etwa länger; denn auf seinem Schulweg gibt es eben immer wieder Neues und Spannendes, das ihn ablenkt. Da muss noch das neue Kälbchen beim Bauern geschaut werden oder er beobachtet die Kaulquappen im kleinen Wehr. Heute soll es eine geheimnisvolle Tierspur im Neuschnee gewesen sein, die er neugierig verfolgt hat, erzählt seine Schwester. Sie sitzt bereits seit einer halben Stunde Zuhause in ihrem Zimmer und packt noch das letzte Weihnachts-Geschenk ein, um es danach draussen im 'Schopf' zu all den anderen in eine grosse Holz-Truhe zu legen.

Hanspeter, der Mann von Lisbeth, wird dann später, anstelle des Christkindes, die Weihnachtsgeschenke aus der Truhe unbemerkt ins hintere 'Stübli' bringen bringen und unter den Weihnachtsbaum legen. Lisbeth hat dazu das Fenster nur leicht angelehnt.
So macht man das in diesem Haus schon seit Generationen.

Nur einmal, Lisbeth ging damals noch nicht zur Schule, ist dabei ein Missgeschick passiert.
Schreinermeister Kneubühler, der zufälligerweise auf der Strasse vorbeikam, beobachtete, wie jemand hinter dem Haus durchs Fenster einsteigt. Der aufmerksame Mann meint, Lisbeths Vater sei ein Einbrecher. Er läutet unerschrocken vorne an der Haustüre – die kleine Lisbeth hat dann geöffnet …
Schnell war dann der kindliche Glaube, dass das Christkind die Weihnachts-Geschenke bringen würde, verflogen.
Auch das bisschen Engelshaar, das man am Abend noch am Weihnachtsbaum gefunden hat, konnte das nicht mehr ändern.

Mit einem Lächeln schliesst Lisbeth jetzt schnell die hintere 'Stübli'-Türe.
„Mami, Mami, Maaami!“
Walterli steht weinend unter der Haustüre.
„Was ist denn auch passiert?“
Lisbeth nimmt den Kleinen in den Arm und streicht ihm tröstend über die Haare.
„Bist du umgefallen – hast du dir weh getan?“
„Der Stern,  der Stern, der schöne Weihnachtstern“, schluchzt der Bub und sein schmächtiger Körper wird heftig durchgeschüttelt.
„Was ist denn mit dem Stern, was ist passiert?“
„Ich habe ihn verloren, meinen schönen Stern, den wir in der Schule gebastelt haben. Irgendwo auf dem Weg habe ich ihn verloren und nicht mehr gefunden. Ich wollte ihn doch dir schenken.“
Walterli wird von einem neuen Weinkrampf geschüttelt.

Mit der Zeit erfährt Lisbeth, dass Walterli, als er der Tierspur ins Gestrüpp gefolgt ist, den selbstgemachten Weihnachtsstern auf die Bank beim Wehr gelegt hat. Als er zurückkam, war der Stern weg. Er habe noch überall gesucht, jammert der Kleine ganz enttäuscht.
„Ich werde ihn nachher auch noch suchen gehen“, tröstet ihn die Mutter. „Ein paar andere Schulbuben werden ihn vielleicht irgendwo versteckt haben, ich werde ihn schon finden. Komm jetzt, zuerst mache ich dir nun eine Tasse heisse Schokolade – du bist ja ganz durchgefroren, sonst wirst du mir noch krank.“

Wenig später macht sich Mama auf die Suche. Es hat bereits eingedunkelt, nur der Vollmond spendet etwas Licht. Sie läuft den ganzen Weg dem Fluss entlang zurück, schaut immer wieder hinter die grossen Granitblöcke am Wegrand und unter die verschneiten Büsche .
‘Wenn man den Stern nur nicht ins Wasser geworfen hat’, denkt Lisbeth, ’denn dann wäre er nicht mehr zu retten.’ Sie mag sich gar nicht ausdenken, wie enttäuscht ihr Kleiner sein würde, wenn sie ohne seinen Weihnachtsstern nach Hause kommt.
Trotz der Sorge um Walterli und der Suche nach dem Weihnachtsstern, geniesst Lisbeth nach der hektischen Vorweihnachtszeit den Fussmarsch durch den Neuschnee. Auch wenn ein recht scharfer, kalter Wind über die Weite der Felder zieht. Aber es ist eine sternenklare Nacht und die Ruhe wird nur von Windgeräuschen und dem beruhigenden Plätschern des Flusses begleitet.

Beim Holzwehr schaut sie sich etwas genauer um. Gut sieht sie die kleinen Abdrücke von Walterlis Winterstiefeln im Schnee. Aber weder bei der ersten noch der zweiten Sitzbank, links und recht vom Wehr, findet Lisbeth den Stern. Sie hatte gehofft, dass er durch den Wind vielleicht hinter die Bank oder in das Gebüsch geflogen sein könnte. Aber sie findet nichts.

Bei Lisbeth schwindet nun doch die Hoffnung, mit dem verlorenen Weihnachtsstern nach Hause kommen zu können.
”Vielleicht hat er ihn ja auch schon früher verloren“, macht sie sich wieder etwas Hoffnung und geht weiter zur kleinen Holzbrücke beim Wasserfall.

Dort bleibt sie wie immer etwas stehen. Es ist einer ihrer Lieblingsplätze. Gerne schaut sie in der Mitte der Brücke stehend, einen Moment dem Fluss zu. Es fasziniert sie immer wieder, wie er dort auf der einen Seite breit und ruhig, nichts ahnend auf den Wasserfall zufliesst; sich dann etwas verengt und unter der Brücke gleichmässig über die Kante rinnt. Tosend und mit heftigen Turbulenzen wird er dann tüchtig durchgemischt und mit viel Sauerstoff angereichert. Doch nur wenige Meter später setzt er auf der anderen Brückenseite seinen Weg still und bedächtig weiter fort, als ob nichts geschehen wäre.
‘Fast wie im Fluss des Lebens,’, denkt Lisbeth, ’es gibt immer mal wieder heftige Turbulenzen – man wird kräftig durcheinander gebracht – aber dann geht das Leben einfach um eine Erfahrung reicher weiter.’ 





Nach einem tiefen Atemzug setzt die junge Frau ihren Weg über die Brücke fort. Kurz darauf sieht sie auf der anderen Flussseite das hellerleuchtete Alterszentrum mit dem Heim und den Alterswohnungen. Die Heimbewohner scheinen gerade beim Nachtessen zu sitzen, der Speisesaal strahlt Gemütlichkeit und behagliche Wärme durch die hell erleuchteten Fenster aus.

Plötzlich glaubt Lisbeth durch das dichte Gebüsch am Wegrand etwas zu hören. Ist es ein Hüsteln, ein Jammern oder weint da gar jemand? Die junge Frau bekommt ein wenig Angst. Jetzt muss sie auch noch den dunklen Weg hinauf zum Schulzentrum gehen und genau von dort oben kam das unheimliche Geräusch. Liesbeth muss jetzt allen Mut zusammen nehmen. Zum Glück hat sie die starke Taschenlampe mitgenommen, die sie nun aus der Manteltasche zieht. Sie leuchtet vor sich auf den verschneiten Kiesweg und nimmt die Steigung in Angriff. Etwas mulmig ist ihr schon.
Nach einigen Schritten kommt sie zu einer weiteren Sitzbank. Dort scheint sich etwas zu bewegen. Lisbeth richtet den Lichtstrahl auf die Bank und sieht eine zusammengekauerte Gestalt in der Kälte sitzen. Ein Gehstock ist an die Bank gelehnt. Es scheint ein alter Mann zu sein, denn manchmal hüstelt er ein wenig; das Geräusch muss von ihm gekommen sein. Aus seiner rechten Manteltasche ragt eine Weinflasche. Neben ihm liegt ein goldgelber Weihnachtsstern.
Lisbeth ist erleichtert. Aber das Gefühl wird schnell von einer gewissen Angst abgelöst. Denn in der  dunklen Gestalt erkennt sie den alten Schreinermeister Kneubühler, ein vierschrötiger, etwas mürrischer Mann. Schon immer hat sie sich vor seinem Aussehen etwas gefürchtet und, dass gerade er ihr damals die Illusion vom Christkindes geraubt hatte, machte ihn auch nicht sympathischer.
Mutig geht sie näher.

„Guten Abend, Herr Kneubühler.“
Der Mann richtet einen stumpfen Blick auf sie.
„Ich bin die Lisbeth, die Tochter des Gretler Hannes – des Schmieds.“
Ein undefinierbarer Brummton ist zu hören und nach einer Pause des Nachdenkens sagt er:
„Aha, der Schmied-Hannes – war ein guter Mensch, der Hannes – aber auch schon seit ein paar Jahren weg – ja, so gehts.“
„Darf ich mich kurz zu ihnen setzen?“ fragt Lisbeth.
Der grosse Mann rückt etwas zur Seite.
„Und du bist also die kleine Lisbeth“, der alte Mann macht eine Pause und versucht sich zu erinnern.
„Warst nicht du es damals? – als ich meinte, dein Vater …“
Lisbeth muss lächeln:
„… sei ein Einbrecher“, ergänzt sie freundlich.
„Hast mir leid getan. Hab ja gesehen, wie du erschrocken bist und wie deine Mutter mit den Händen gefuchtelt hat.“
„Ist schon gut“, Lisbeth legt beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm, „es ist lange her.“
 Beide schweigen für einen Moment.
„Ich bin auf der Suche nach einem Weihnachtsstern. Mein Sohn hat ihn verloren und wie ich sehe, liegt er vermutlich dort neben ihnen auf der Bank.“
„Kann sein“, kommt es zögerlich, hab ihn gefunden – hinter der Bank am Wehr. Ich mache mir ja nichts aus Weihnachtssternen – aber der Wind, hat ihn zum Wasser getrieben“
„Dann haben sie ihn also gerettet“, wundert sich Lisbeth.
Dankbar drückt sie ihm ein bisschen den Arm.
„Habe mir schon gedacht, dass ein Kind ihn suchen wird“, murmelt der Mann, „aber dort war es mir zu windig …“
„… und darum haben sie hier gewartet?“
Lisbeth ist ganz gerührt. So hat sie den Kneubühler gar nicht eingeschätzt: So lange hier zu sitzen – in der Kälte – wegen einem Weihnachtstern und einem Kind.
 

Der alte Mann greift nach dem Stern und legt ihn der Lisbeth auf den Schoss.
„Wie heisst denn der Kleine?“
„Walterli.“
Wieder entsteht eine Pause und Lisbeth beginnt zu frösteln.
„Hier können sie nicht sitzen bleiben, Herr Kneubühler“, sagt sie und steht auf.
„Kommen sie, ich begleite sie ein Stück nach Hause. Wohnen sie nicht dort unten in einer Alterswohnung?“
„Walter, genau wie ich.“ Zum ersten Mal huscht ein Lächeln über sein faltiges Gesicht. Der alte Mann greift nach seinem Stock und erhebt sich mühsam von der Holzbank.
„Ich musste einfach raus – überall diese Weihnachten, auf jedem Sender, das ist ja nicht zum Aushalten.“
„Heute ist eben Heilig Abend“, wendet Lisbeth ein.
„Für mich nicht!“, kommt es etwas barsch vom Mann.
„Mögen sie keine Weihnachten?“
„Ich mache mir nichts mehr daraus. Und seit Heidi gestorben ist, erst recht nicht. Zu viele Erinnerungen. Früher gab es wenigstens noch ein gutes Essen und heute? Hocke ich alleine – ich hasse diese Festtage.“
„Haben sie denn niemanden, der zu ihnen schaut, Kinder, Nachbarn oder so?“
„Ach, die einen sind zu weit weg, die anderen haben keine Zeit oder sind irgendwo eingeladen. Das ist doch die dümmste Zeit des Jahres.“

Bald sind sie bei den Alterswohnungen angelangt. Der alte Mann tut Lisbeth leid. Einsam und verbittert wird er nun den Heiligen Abend trostlos und alleine aushalten müssen.
„Es würde mich freuen, wenn sie den heutigen Abend mit uns verbringen würden, Herr Kneubühler.“
„Ach was, das geht doch nicht“, entgegnet der alte Mann mürrisch.
„Anderen Menschen noch zur Last fallen – nein danke, ist schon gut!“
„Sie fallen uns nicht zur Last, Herr Kneubühler. Ich dachte nur – der Walterli – nun ja, er hat eben seinen Grossvater kaum gekannt. Er war noch zu klein, als mein Vater starb. Da dachte ich, dass vielleicht sie …? Ich meine, das wäre doch schön – und nachher gibt es feinen Schinken mit Kartoffelsalat und ein Glas Roten, oder auch zwei. Ich würde sie dann mit dem Auto auch wieder hierher zurückbringen.“
Unsicher schaut sie der alte Mann an. Lisbeth hält seinem Blick stand:
„Es würde mich wirklich freuen; und bestimmt freut sich auch Walterli!“
„Also gut,  wegen Walterli - und bei dir habe ich ja auch noch etwas gut zu machen, von früher“, sagt der Mann schmunzelnd; „und, die nehme ich mit für uns alle.“
Damit zieht er die ungeöffnete Weinflasche aus der Manteltasche.
„Mit der wollte ich mich nämlich heute Abend betrinken, aber nun …  – Ich muss mich nur rasch etwas 'zwäg machen', kommst du schnell mit hinauf – und gell, nenn mich bitte Walter.“

Bald hat sich Walter rasiert, gekämmt und schön angezogen. Sogar eine Krawatte hat er umgebunden. Lisbeth hat derweilen im gemütlichen Wohnzimmer gewartet. Nun ist es aber höchste Zeit, sich rasch auf den Weg zu machen. Lisbeth hält den verlorenen Weihnachtstern in der Hand und Walter Kneubühler die Weinflasche in einem Sack.
Gemeinsam gehen nun schweigend über den knirschenden Schnee, jeder zufrieden, dass er dem anderen etwas behilflich sein kann. Denn auch Walter freut sich jetzt auf einen gemütlichen Heiligen Abend.

„Den Stern gibst du dann bitte dem Walterli, gell!“, unterbricht Lisbeth die Stille. „Schliesslich hast du ihn gefunden und gerettet. Er wird sich darüber sicher mächtig freuen.“



© Bild von: agnesliinnea / Lizenz: CC0     / by: pixabay 

Genau so kommt es. Walterli ist überglücklich, dass Walter den Stern gerettet hat.
Auch der Vater und die Schwester müssen nun sein Kunstwerk bestaunen. Dann bringt der kleine Walterli dem grossen Walter Hammer und Nägel und zusammen hängen sie den goldenen Weihnachtsstern draussen neben die Eingangstüre.

Schon bald glaubt Walterli ein leises Klingeln vernommen zu haben und Walter kann das mit einem Schmunzeln nur bestätigen. Ja wirklich, im 'Stübli' leuchtet der Weihnachtsbaum wunderschön und das Christkindli hat einige Geschenke darunter gelegt. Auch zwei für Walter – Lisbeth hat noch schnell etwas eingepackt.

Es wird ein besinnlicher Heilig Abend. Walter muss sich während der Feier einige Male mit dem Ärmel verstohlen über die feuchten Augen wischen. Beim anschliessenden, gemütlichen Nachtessen wird allerhand besprochen. Auch, dass Walter nun öfters in die Weidmatt zum Essen kommt. Zudem gibt es für den früheren Schreinermeister im alten Bauernhaus allerhand zu flicken. So auch die alte Truhe im Holzschopf. Die könnte er etwas aufmöbeln, damit sie den alten Weihnachtsbrauch auch bei den nächsten Generationen schadlos überdauert.

Lisbeth hat übrigens fest vorgenommen, auch bei Walter nun öfters vorbeizuschauen, wenn sie zum Einkaufen geht. Der früher so gefürchtete Mann ist ihr nämlich in den weihnachtlichen Stunden so richtig an Herz gewachsen.
Copyright Herr Oter (Dezember 2015)



 Eine schweizerdeutsche Lesefassung für den privaten Gebrauch
kann auf Anfrage bei mir bezogen werden.




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Dienstag, 22. Dezember 2015

Zwei niedliche Jungwölfe erhitzen die Gemüter



Zwei niedliche Jungwölfe erhitzen die Gemüter

Weil die Wölfe aus dem sogenannten 'Calanda-Rudel' immer mehr die Scheu vor den Menschen verlieren, könnte sich daraus ein aggressives Verhalten gegenüber Menschen entwickeln. Darum sollen nun zwei Jungtiere zur Abschreckung getötet werden.
Diese Meldung entfacht nun in verschiedenen Zeitungen viele Reaktionen, einige Kommentarfunktionen mussten inzwischen sogar geschlossen werden.

Besonders heftig wurde die Massnahme auch auf FB kommentiert.

(Guck mal)
Man ärgert sich, dass der Mensch, «über die Tierwelt bestimmt», ja es wird sogar um deren «Erhalt» gefürchtet. Auch das Ermorden von «härzigen Jungtieren» wird heftig verurteilt, als ob ein Kalb, ein Lamm, ein Fohlen oder ein „Mistkratzerli” keine Jungtiere wären. In manchen Kommentaren wird der Abschuss auch «als Regulierung durch die Jagd» verurteilt – aber bei über 26 Tausend Füchsen, deren Fleisch und Fell kaum noch verwertet wird, spielt das keine Rolle.
Übrigens: Auf Schweizer Strassen wird jede Stunde ein Reh totgefahren, insgesamt sind es über 20’000 Wildtiere pro Jahr.
Viele dieser Kommentare sind sehr gehässig. Da werden Menschen mehrfach als Idioten, Sauhüng, Spinner usw. bezeichnet oder mit einer 'Körperöffnung' betitelt; es wird 'Gegessenes' wieder von sich gegeben und es wird u.a. gefordert, dass auch zwei Beamte der zuständigen Behörde «zum Abschuss frei gegeben werden» und die ausführenden Jäger «an die Wand gestellt werden». Solche Kommentare finde ich, auch angesichts der beiden leidgeprüften Jungwölfe, einfach unerhört.

Ich möchte einfach noch daran erinnern, dass zur menschlichen Ernährung in der Schweiz im Jahre 2014 folgende Tiere getötet wurden:

 50’577’768 Hühner;
   2’751’441 Schweine;
     398’664 Rinder;
      251’476 Kälber;
     239’647 Schafe;
         2’897 Pferde,
       40’599 Rehe
      26’366 Füchse
     10’740 Hirsche
     12'231 Gämsen


Dazu kommen viele weitere Tierarten, die gejagt werden (Wildscheine, Hasen Gämsen, Murmeltiere usw.) oder die täglich geschlachtet werden (Ziegen, Kaninchen, Strausse, usw.)
und ein auch paar Millionen Wassertiere, wie Fische und Krustentiere usw., dazu gehören übrigens auch die feinen Scampi, Muscheln und Crevetten.

Als „nutzlos!" werden in der Schweiz zudem jährlich 2,4 Millionen männliche Küken qualvoll vergast und millionenfach tote Tiere zur Tierfütterung oder in der Forschung verwendet.


Dazu kommen in diesem Jahr nun leider auch noch 2 abgeschossene Calanda-Wölfe!





;)



Dienstag, 15. Dezember 2015

Der Weihnachts-Trompeter und die Ballerina





Der Weihnachts-Trompeter und die Ballerina
Eine weitere Adventsgeschichte für meine diesjährigen Lesungen
im Adventskaffee des Altersheims
(Blog-Version)




Ein dumpfes Stimmengewirr schleicht sich in die Traumwelt von Max.
„Schachtel, Weihnachtsschmuck, Kugeln, Christbaum …“
Solche Wortfetzen vermischen sich mit seinem Traum:

«Max lässt seinen Blick umherschweifen. Hunderte rote Wachskerzen leuchten eindrucksvoll an der stattlichen Weisstanne und das Kerzenlicht spiegelt sich tausendfach in grossen, farbigen Weihnachtskugeln. Ein richtiges Lichtermeer um ihn herum und er mitten drin - Max wird ganz warm. Bunte Schleifen und Bänder konkurrieren mit dem Grün der Tannennadeln und kleine, farbige Weihnachtspäckchen hängen geheimnisvoll an den ausladenden Ästen. Max ist überwältigt. In all den Jahren hat er keinen grösseren und schöneren Christbaum gesehen. Der riesige Weihnachtsbaum steht genau unter der mächtigen Kuppel in der Mitte einer grossen Kirche. Es soll der Dom sein, hat man ehrfürchtig gemunkelt.
Langsam füllt sich nun das Gotteshaus. Fast zweitausend Personen werden ihn endlich einmal spielen hören, wen er, der berühmte Weihnachtstrompeter, sein Solo vortragen wird.
Max bekommt bei dem Gedanken ganz weiche Knie. Zum Glück sieht man das nicht. Doch er ist ja nicht allein, beruhigt sich Max. Rechts, ganz weit unten im Chor, stehen die berühmten Domspatzen. Auf der linken Seite sitzt das grosse Symphonieorchester mit den vielen Geigern und Flötistinnen und ihm gegenüber thront die mächtige Domorgel über der Eingangspforte. Sie alle werden ihn bei seinem virtuosen Trompetensolo unterstützen – und er wird brillant spielen. Schon glaubt Max, den tosenden Applaus zu hören.»

„Hier! Ich habe sie!“
Ein heftiges Erdbeben reisst Max aus seinem schönen Traum. Jetzt wird er tüchtig durchgeschüttelt und nun ist er hellwach. Zum Glück liegt er weich gebettet. Trotzdem lastet etwas schwer auf ihm. Es wird wohl der gewichtige Nikolaus sein. Max liegt in völliger Dunkelheit, hört jetzt aber, wie jemand die Stiege vom Dachboden hinunter schlurft. Es scheint also bereits wieder Zeit für den grossen Weihnachts-Auftritt zu sein.
Max fühlt sich gut. Der lange Sommerschlaf hat ihm nach der letzten, anstrengenden Weihnachtszeit gut getan.
Denn Max gibt als Weihnachtstrompeter immer alles. Die Saison ist nur kurz und Trompete spielen ist schliesslich sein Beruf – nein sogar seine Berufung, er kann ja nichts anderes. Darum freut sich Max jedes Jahr, auf seinen Auftritt am Weihnachtsbaum. Er bläht schon mal die Backen auf.

Kurz darauf wird Max aus dem Seidenpapier gewickelt und behutsam auf einen kleinen Tisch in der Stube gelegt. Ein kurzes Schaudern durchfliesst seinen dünnen Holzkörper, in der Schachtel war es doch wärmer.
Vorsichtig öffnet Max die Augen. Nur langsam gewöhnen sie sich an das grelle Tageslicht. Doch im Moment sieht Max sowieso noch nicht viel, der breite Rücken des Nikolaus mit seinem dicken, roten Mantel versperrt ihm die Aussicht.
Ob sie alle wieder da sind, fragt sich Max?
Der Hase, die Eule, der kleine Hund, der Waldvogel, das scheue Rehlein oder das dicke Glücksschwein. Ob sie alle den Sommer gut überstanden haben? Der gemütliche Schneemann, der immer etwas Angst vor der Wärme hat oder der freche Fliegenpilz, der nur davor Respekt hat, dass ihm die rotbraune Schnecke in der Weihnachts-Schachtel zu nahe kommt.
Max, der langjährige Weihnachtstrompeter, kennt jeden seiner Truppe. So auch die goldenen Zapfen, die glitzernden Schneesterne und die bunten Christbaumkugeln, die den Weihnachtsbaum ja erst so richtig festlich machen. Max mag alle vom Weihnachtsschmuck. Auch die kleinen Süssigkeiten, die am Heiligen Abend ganz zahlreich am Baum hängen. Sie duften doch immer so fein. Leider sind sie jeweils recht schnell verschwunden.
Nur mit den Wachskerzen wurde Max nie so richtig warm. Sie waren recht unnahbar. Denn während sie brannten, vermied man den Kontakt zu ihnen besser. Weil, wenn man ihnen zu nahe kam, konnten sie recht gefährlich werden. Und nachher waren sie immer verschwunden – sie blieben ja nur einen Abend lang. 
Vor einigen Jahren wurden sie dann durch Elektrische ersetzt. Mit denen geht es jetzt besser, auch wenn sie ziemlich gefühllos wirken.

Auch mit der schlanken, silbernen Spitze auf der Baumkrone kann es der stramme Trompeter nicht so recht. Sie ist ihm zu hoffärtig. Sie meint, sie sei Spitzenklasse und blickt ständig hochnäsig von oben herab auf alle anderen.
‘Aber ,was kann die denn schon, ausser zu glänzen‘, denkt Max. ‘Sie wäre nicht die erste, der Hochmut das Genick bricht.’ – Etwa so, wie bei der dicken Pute im letzten Jahr, die auch immer mächtig aufgeblasen war, bis sie dann vom Baum fiel. Ein dünnes Ästchen hat sie wohl nicht mehr ertragen. Nur wenige hatten Mitleid mit der dummen Gans.
Da sind Max die kleinen, niedlichen Engelchen schon viel lieber. Wunderschöne Wesen mit Fügelchen die bescheiden und federleicht an feinen Schnüren hängen. Oder die andere Himmelsgeschöpfe mit ihren glänzenden Posaunen, aus dünnem silbernem Metall gestanzt. Sie unterstützen ihn jeweils beim Spielen. Mit diesen niedlichen Wesen hat er oft richtig Spass.










Während Max noch eifrig von seinen Engelchen träumt, greifen leicht zitternde Hände behutsam nach ihm.
„Ja schau da, der Max, unser grosser Weihnachtstrompeter“.
Max blickt in ein vertrautes, freundliches Antlitz. Es ist das von Christian.
'Im Gegensatz zu mir, ist er in den letzten Jahren doch ziemlich gealtert’, denkt Max. Denn die beiden kennen sich schon viele Jahre lang. Christian hat ihn damals aus dem Geschäft geholt, als Max zusammen mit vielen anderen Weihnachtsfiguren dort auf einen Käufer wartete. Christian entdeckte den Trompetenspieler rein zufällig, aber kaufte ihn dann ohne lange zu überlegen. Denn er passte genau zu seinem Sohn Georg, auch er ein junger Trompetenspieler mit einiger Begabung.
Was war das für einen Auftritt – damals an seinem ersten Heiligen Abend. Max erinnert sich noch gut: Es hatte nicht lange gedauert, bis Georg ihn am Baum bemerkt hatte. Die Freude im Gesicht des kleinen Buben, wird Max wohl nie mehr vergessen. Georg wollte den Trompeter natürlich sofort ungestüm vom Baum reissen – Max fürchtete sich gleich um seine Gesundheit – aber der Vater wusste um die Zerbrechlichkeit des steifen Trompetenspielers und schützte ihn vor den flinken Kinderhänden, indem er Max zwei Äste höher platzierte.

Seither sind über zwei Jahrzehnte vergangen und kaum einer der Familie interessierte sich noch für den Trompetenspieler. Für den erwachsenen Georg, der jetzt eine eigene Familie hat, ist die Trompete nicht mehr das Wichtigste und Erwachsene betrachten einen Christbaum ja sowieso anders, als Kinderaugen. Nur Christian schaut den Trompetenspieler jeweils nachdenklich an, bevor er ihn in der Mitte des Baumes festklemmt. Er nimmt immer ein besonders starkes Ästchen, denn Max blieb die einzige Christbaumfigur, die der alte Mann jemals gekauft hatte. Und Max dankt es ihm, denn er ist mit Leib und Seele Weihnachtstrompeter.


Bald ist der Baum festlich geschmückt. Der Trompetenspieler ist jetzt umgeben von  goldenem Engelshaar und silbrigem Lametta. Alle seiner Truppe haben den Umzug auf den Baum schadlos überstanden – immer ein gefährliches Unterfangen. Schon manche Weihnachtskugel musste am Ende der Saison beklagt werden, weil sie am Boden zerschellte. Max schaut sich um. Zwei, drei Engelchen sind ganz in seiner Nähe, so fühlt er sich richtig wohl.
Nun kommt noch die silberne Grazie als Letztes auf die Spitze der Tanne. Anfänglich wankt sie bedrohlich, doch dann ist sie ganz ihrer selbst – die Krönung des prachtvollen Christbaums.
Innerlich verzieht Max verächtlich sein Gesicht, äusserlich lässt er sich natürlich nichts anmerken.
Schnell wird Max wieder abgelenkt, denn die Schwiegertochter, die seit ein paar Jahren zusammen mit Christian den Baum schmückt, zieht eine neue Figur aus einem  dünnen Papierumschlag. So ein Neuankömmling ist natürlich immer eine grosse Sache und alle sind gespannt, was es wohl sein könnte.
Es ist eine zierliche Balletteuse! Sie wird sicher für die kleine Nina an den Baum gehängt. Denn für die Fünfjährige wurden im letzten Jahr schon ein rosa Tutu und Ballettschuhe unter den Weihnachtsbaum gelegt.
Unweit unter Max wird die graziöse Tänzerin ans Bäumchen gehängt. Aufgeregt dreht sie sich ein paar mal im Kreis – nach links und dann wieder nach rechts herum, bis sie ausgependelt halt. Dabei wird das dünne Ästchen arg belastet.
‘Aber es wird sie tragen können‘, denkt Max, ‘so federleicht wie sie aussieht‘.




Max wird etwas nervös, so nahe bei dieser reizenden Ballerina. Krampfhaft versucht er sich bemerkbar zu machen, möchte seinen Ast gerne auch etwas in Schwung bringen, aber dazu ist er zu unbeweglich.
Die junge Tänzerin bemerkt ihn nicht. Sie schaut verzückt an ihm vorbei nach oben zu der formvollendeten Grazie die zuoberst auf dem Baum thront.
‘Ha’, denkt der kleine Trompeter verächtlich, ’der Scheint trügt – wenn du wüsstest …‘
Aber noch muss er sich gedulden, denn erst nach Mitternacht kann er ihr sein ganzes Können beweisen.

Zuerst hat nun das goldene Glöckchen seinen grossen Auftritt.
„Bimm, bimm, bimm!“ Hell und rein tönt sein zarter Klang.
Das bescheidene Glöckchen ist fast etwas verlegen, dass es jeweils als Erstes den Ton angeben darf. Aber es ist nun mal seine Aufgabe, den Heiligen Abend einzuläuten.
‘Welch eine Ehre und trotzdem bleibt es ganz bescheiden‘, denkt der Trompeter mit einem verächtlichen Blick hinauf zur Tannenspitze. 




Nun wird die Türe aufgerissen und die beiden Kinder stürmen ins Wohnzimmer. Beeindruckt ob der herrlichen Pracht bleiben sie mit offenen Mündern stehen. Auch die Erwachsenen kommen nun zum Baum, um ihn zu bestaunen.
Bereits nach kurzer Zeit entdeckt das Mädchen die Tänzerin.
„Papa, Mama, schaut!“, ruft die Kleine ganz begeistert, „eine Prima Ballerina“.
Vergnügt quietscht Nina und der jungen Tänzerin am Baum ist der Stolz anzusehen.
‘Geniesse es, Kleine’, denkt Max ein bisschen wehmütig, ‘in zwei, drei Jahren wirst auch du unbeachtet am Baum hängen, genau wie ich.’
Jetzt schiessen die dünnen Ärmchen des Mädchens nach oben und wollen das zarte Geschöpf am Baum packen.
„Nein!“, schreit Max aus Leibeskräften und bläst vor Schreck viel zu früh auf seiner Trompete verzweifelt Alarm.
Doch leider können ihn die Menschen ja nicht hören.
Oder vielleicht doch?
Möglicherweise gerade ältere Menschen, wenn sie ein grosses Herz für Weihnachtsfiguren haben?
Jedenfalls kann Christian, sein alter Freund, im letzten Moment das Schlimmste abwenden und die Tänzerin behutsam, vor den unbeholfenen Kinderhänden retten.
‘Puh! – Glück gehabt, Kleines!‘, denkt Max erleichtert.
Die Balletttänzerin wird nun etwas höher gehängt und tanzt jetzt – aufgeregt vor Schreck – ganz nahe neben Max am Ästchen wild hin und her und … – berührt dabei leicht seinen ausgestreckten Arm.
„Oh, Pardon!“ haucht eine feine Stimme.
'Sie hat mich bemerkt! Sie hat gemerkt, dass ich ihr wahrscheinlich das Leben gerettet habe.’
Der Trompetenspieler ist ganz aus dem Häuschen und blickt voller Stolz zu seiner Angebeteten. Noch nie hat er ein lieblicheres Wesen gesehen.
‘Warte nur bis Mitternacht’, denkt der Musikant.
Denn erst dann, wird er alles geben können, um sie mit seinen Trompetenklängen so richtig zu bezaubern. Max wird seltsam warm ums hölzerne Herz.

Aber er hat keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn nun greift jemand nach ihm.
„Ach schau da, der alte Trompetenspieler. Gibt's dich auch noch?“
Sanft streicht Georg der Figur über den Kopf und nun ist es Max, der auf seinem Ast vor Freude wilde Luftsprünge macht. Endlich wird er wieder einmal wahrgenommen. Max ist überglücklich. Er hüpft noch einige Male auf und ab. Verwundert schaut die junge Tänzerin zu ihm herüber.
Hat ihm die junge Frau jetzt auch noch zugelächelt?
Max kann sein Glück kaum fassen. Sein Herz schlägt ihm bis zum Hals. Könnte er, würde er jetzt schon seine Fanfare in die goldene Trompete blasen. Aber dazu muss er sich noch ein bisschen gedulden.

Denn immer um Mitternacht, genau beim zwölften Glockenschlag, wenn alle Hausbewohner in der Mitternachtsmesse oder müde und zufrieden im Bett liegen, dann kommt sein grosser Auftritt. Dann schmettert Max mit seiner Trompete das Signal zur Sternstunde aller Weihnachtsfiguren in die mystische Nacht. Dann werden sie alle für eine Stunde lebendig und feiern fröhlich ihre eigene, hochheilige Zeit.
Max wird dabei in diesem Jahr besonders hingebungsvoll die gefühlvollsten Trompetenstücke spielen die er kennt. Bestimmt wird er mit seinen Klängen das Herz dieses wundervolle Wesens berühren und sie wird sie sich nur für ihn im Kreis drehen und zu seiner Musik tanzen. Endlich wird sein Traum wahr und Max der grosse Weihnachtstrompeter wird den grössten Auftritt seines Lebens haben; dazu brauchte keinen Dom mit zweitausend Zuhörer, sondern nur die Eine.

Am 6. Januar verschwinden sie dann müde, aber glücklich, wieder in der grossen Weihnachtschachtel zum wohlverdienten Sommerschlaf und träumen von grossen Auftritten, leuchtenden Kinderaugen und älteren Menschen, die manchmal ein ganz besonders feines Gespür für leblos scheinende Weihnachtsfiguren haben.

Einer jedoch träumt von einer sanften Berührung und dem Tanz einer grazilen Prima Ballerina.
Hoffentlich liegt in diesem Jahr anstelle des übergewichtigen Nikolaus, die federleichte Tänzerin über ihm. und wer weiss, vielleicht gestattet sie ihm, dass sie sich während des langen Sommerschlafes an den Händen halten.

© Herr Oter (Dezember 2015)


Eine schweizerdeutsche Lesefassung für den privaten Gebrauch
kann auf Anfrage bei mir bezogen werden.




Eine ähnliche Geschichte 
(sie diente mir als Inspiration), 
des bekannten Autors Gernot Jennerwein findet ihr hier
Die wunderbare Geschichte kann man auch gedruckt und wunderschön illustriert kaufen, hier ist die Webseite des Autors.



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Mittwoch, 9. Dezember 2015

Alex, der kleine Ausreisser



Alex, der kleine Ausreisser
Eine weitere Adventsgeschichte für meine diesjährigen Lesungen
im Adventskaffee des Altersheims
(Blog-Version) 


Benno ist auf dem Heimweg von der Arbeit. Es war wieder ein harter Tag heute. Einmal mehr konnte er ihnen nichts recht machen, obschon er sich alle Mühe gegeben hat. Er ist nun mal nicht mehr so schnell und beweglich, seit seinem Unfall. Aber das wussten sie, als sie einstellten, schliesslich zahlt die Versicherung mehr als die Hälfte von seinem Lohn.

Trotz der schwierigen Umstände ist Benno froh um diese Arbeit. Sie gibt im Lebenssinn und ermöglicht Eigenständigkeit – eine eigene kleine Wohnung und ein selbstbestimmtes Leben. Die Alternativen wären eine Behindertenwerkstätte und ein Wohnheim.

In der Adventszeit, ist im Geschäft eben auch immer sehr viel los. Besonders jetzt, während den Tagen des bekannten Weihnachtsmarktes. Der zieht immer sehr viele Leute an, man merkt es an den langen Busreihen, die auf beiden Seiten die Zufahrtsstrasse zum Städtli säumen.

Benno biegt jetzt mit seinem Gefährt in die Altstadt ein. Er wäre froh, wenn er dort schon durch wäre. Dieses Gedränge, dieser Lärm und die fröhlichen Gesichter überall, die sofort auf Bedauern wechseln, wenn sie ihn sehen, erträgt er nur schwer.
Aber Benno kommt nicht voran. Die Leute stehen in dichten Reihen vor den Ständen mit dem Weihnachtsschmuck, den Süssigkeiten, dem Ramsch und den Verpflegungsbuden.
“Jedes Jahr das Gleiche“, denkt Benno und versucht eine Lücke zu finden.

Pressieren muss er zwar nicht, denn es wartet ja sowieso niemand Zuhause. Im Gegenteil, alleine in den vier Wänden wird er manchmal nur noch trauriger.
Denn gerade an solchen Tagen vermisst Benno seine Eltern besonders. Sie haben das Unglück nicht überlebt. Hatte er nun Glück …?
Gerne hätte er auch eine Freundin gehabt, schliesslich ist er bald dreissig. Aber die Frauen wollen keinen Krüppel. Mit denen kann man hier auf dem Weihnachtsmarkt ja nicht prahlen.

Die Wut in Benno steigt wieder hoch. Er muss hier weg, und zwar sofort! 

Er kann die glücklichen und erwartungsvollen Gesichter hier einfach nicht mehr ertragen. Die Erinnerung an Familien unter dem Tannenbaum, Weihnachtslieder und Kinderlachen, all das schmerzt, für ihn ist das Vergangenheit.
Aber die verfluchte Menschenmenge vor ihm … am liebsten würde er … Benno drückt den Hebel auf Vollgas!

Da, ein kleiner Hund. Direkt vor Benno. Er zieht heftig an der Bremse und bleibt wenige Zentimeter vor dem armen Tier stehen.
„Wer nimmt denn auch so einen kleinen Hund mit in dieses Gedränge“, denkt Benno, „vielen Tierhaltern fehlt einfach das Gefühl für Tiere.“
Der Hund rührt sich nicht von der Stelle. Zitternd hockt er dort und schaut sich unsicher um. Er scheint seine Herrschaft verloren zu haben.

„Der hat doch Angst“, denkt Benno und fährt etwas zur Seite.
Von dort aus beobachtet er den kleinen Kerl, sieht aber niemanden, der sich um das Tier kümmert. Alle gehen vorbei, konzentriert auf die Auslagen der Stände.
„Ein lustiger Hund“, denkt Benno.
Schwarzgrau mit wunderschönen, schnauzertypischen Augen. Darüber ein 'Pony', die langen Haare reichen zwischen den braunen Augen bis auf die Nase. Der kleine Kerl hat ein rauhaariges, glänzendes Fell.
„Gut gepflegt, der Kleine“, stellt Benno fest.
Er kennt sich aus mit Hunden – früher hatten sie Zuhause einen Jack Russel. Aber der musste nach dem Unfall weggegeben werden, er konnte ihn nicht in die Reha und die Eingliederungsstätte mitnehmen.

Der Schnauzer scheint nun Benno ebenfalls aufmerksam zu beobachtet. Er neigt den Kopf etwas auf die Seite und schaut neugierig zu Benno in seinem sperrigen Gefährt.

„Können sie nicht weiterfahren, sie blockieren ja alles!“ Ein etwas übergewichtiger Mann, nobel gekleidet, stösst mit dem Fuss ungeduldig an seinen Elektro-Rollstuhl.
„Was müssen solche auch hierher kommen?“ regt sich der bald Sechzigjährige weiter auf. Die viel zu Junge, die an seinem Arm hängt, schüttelt zustimmend den Kopf und schaut Benno feindselig an.

„Entschuldigung!“, sagt Benno kleinlaut und gibt Gas. Er kommt gerade mal zwei Meter weiter. Während er wieder wartet, spürt er plötzlich etwas Feuchtes an seiner Hand. Der Vierbeiner leckt ein paar mal seine Hand.
„Was machst denn du da?“ fragt Benno. Der Kleine spitzt seine Ohren, legt den Kopf wieder schief und wedelt heftig mit dem Schwanz.

Wieder wird Bennos Gefährt geschubst und er muss sich auf die Strasse konzentrieren. Zum Glück kommt er jetzt in die Querstrasse, da ist es ruhiger und Benno kann im gewohnten Tempo weiterfahren.
Der kleine Hund trottet immer noch neben ihm her. Benno hält an und streicht durch sein feuchtes Fell. Der Hund legt eine Vorderpfote auf Benno Oberschenkel.
„Du kannst nicht mitkommen, Kleiner. Geh zurück, jemand wird dich sicher vermissen.“
Wie gerne hätte Benno wieder einen solchen Begleiter gehabt. Aber sein Beistand erlaubt es ihm nicht.
 „Ein Hund macht zu viele Umstände – schau, dass du selber zurechtkommst!“, hatte er entschieden.

Benno gibt wieder Gas und biegt in die Hintergasse ein. Nach einer Weile schaut er zurück und sieht, dass der Hund ihm weiterhin mit etwas Abstand nachläuft.
„Geh zurück, geh nach Hause oder mach, dass du sonst fort kommst, hast du verstanden?“
Der Hund dreht den Kopf und wendet sich leicht ab – wieder ein typisches Zeichen der Zuneigung.
„Hau ab, du blöder Kerl, ich kann dich doch nicht haben!“
Benno ist den Tränen nahe, dreht sich um und gibt wieder Vollgas.
„He, he spinnst du!“, beinahe hätte er jemanden umgefahren.

Ohne sich nochmals umzudrehen, fährt Benno bis vor seine Haustüre. Er hat sich bald wieder beruhigt.
Kurze darauf stellt sich auch der kleine Hund wieder neben den Rollstuhl.
„Bist du immer noch da? Du bist aber ein hartnäckiges Kerlchen …!“
Benno lehnt sich seitlich aus dem Stuhl und zieht den Hund am Halsband zu sich.
„Entschuldige bitte, du bist ja sicher ganz ein lieber Kerl.“
Freundschaftlich tätschelt der junge Mann den Hund.
„Du zitterst ja – Angst oder Kälte?“
„Vermutlich beides“, denkt Benno.
„Was machen wir jetzt mit dir?“
Der kleine Schnauzer legt seinen Kopf wieder schief und schaut den Mann im Rollstuhl interessiert an, als erwarte er eine Antwort.
„Du gehörst doch sicher jemandem, ich kann dich doch nicht einfach mit zu mir hinauf nehmen.“
Der Hund scheint anderer Meinung zu sein, denn er springt einfach auf Bennos Schoss. Der schaut sich vorsichtig um, kein Mensch weit und breit. Es ist inzwischen auch völlig dunkel geworden.
Der Kleine schaute ihn mit seinen treuen Hundeaugen an. Das erweichte schliesslich Bennos Herz.

„Also gut, für eine Nacht“, sagt Benno, „und morgen gehst du wieder nach Hause, verstanden!“
Der kleine Vierbeiner schaut Benno treuherzig an, macht „Wuff!“ und springt unternehmungslustig wieder zurück auf den Boden.
„In diesem Fall müssen wir zuerst noch etwas Futter für dich besorgen, komm!“

Im nahen Laden nimmt Benno das kleinste Säckchen Hundefutter, dazu einen Napf und eine ausziehbare Leine. „Er wird ja auch mal raus müssen“, denkt Benno.
Vor dem Bezahlen schaut er vorsichtshalber nochmals durch das Ladenfenster, ob der kleine Ausreisser noch auf ihn warte. Und tatsächlich, der Hund steht artig vor der Ladentüre und wedelt heftig mit dem Schwanz, sobald er Benno am Fenster sieht.

Es bleibt nicht bei einer Nacht. Alexander, so nennt Benno den Hund inzwischen, wohnt nun schon über eine Woche bei ihm.
Sie sind richtig gute Freunde geworden. Täglich geht Benno mit Alexander dreimal spazieren. Er hat dazu im Geschäft extra eine halbe Stunde mehr Mittagszeit verlangt. Es macht ihm inzwischen auch keine Mühe mehr, vom Rollstuhl aus den Hundekot aufzusammeln.
So glücklich ist Benno seit seinem Unfall nicht mehr gewesen. Der lustige Hund tut ihm richtig gut – gerade jetzt in der Adventszeit, die sowieso immer etwas schwierig für Benno ist. Er freut sich auf jeden neuen Tag mit dem Tier.
Auch bei der Arbeit geht es besser. Die Hetzerei hat zwar nicht abgenommen, aber sie macht ihm weniger aus und die Sticheleien des Chefs überhört er einfach. Da denkt er lieber an seinen Hund und freut sich auf das Zuhause. Denn dort wartet jetzt jemand auch auf ihn. Endlich! Endlich hat auch er einen richtigen Freund.

Über die Herkunft des Hundes macht sich Benno inzwischen keine Gedanken mehr. Anfangs fragte er noch herum. Auch in der Zeitung fand er nichts und beim Gemeindehaus war nichts angeschlagen. Niemand scheint den Hund zu vermissen. Alexander ist das recht, auch wenn er genau weiss, dass es eigentlich nicht so sein kann.

So erstaunt es ihn nicht wirklich, als er drei Tage vor Weihnachten den Aushang bei der Ladenkasse sieht:
VERMISST! Steht dort in grossen Lettern. Darunter ein Bild von Alexander. Dazu eine kurze Beschreibung des Hundes und eine Adresse aus dem Nachbardorf – alles von Kinderhand geschrieben.

Benno stellt den grossen Hundefuttersack traurig wieder zurück ins Regal. Dabei hat er Tränen in die Augen. Aber er muss den Hund sofort zurück geben, daran gibt es keinen Zweifel. Wie hatte doch er gelitten, als man ihm damals, nach Mutter und Vater, auch noch seinen Hund wegnahm. Nein, das kann er keinem andern Kind antun, auch wenn es ihm fast das Herz bricht.

Auch Alexander spürt die Veränderung und weicht an diesem Abend keinen Schritt von Bennos Seite. Immer wieder legt er seine Schnauze  auf Bennos Knie und schaut ihn aufmerksam an, während der ihm nachdenklich durch sein drahtiges Fell streicht und fast verzweifelt.

Am anderen Morgen, es ist der Samstag vor Heilig Abend, machen sich die beiden auf den schweren Weg. Sie fahren mit dem Bus ins Nachbardorf, die Adresse liegt ziemlich ausserhalb.
Das alte, aber gepflegte Holzhaus und der kleine Garten liegen prächtig in der Wintersonne. Die grünen Fensterläden und die schlichte Weihnachtsdekoration vor den spiegelnden Fenstern machen einen einladenden Eindruck. Ein niedriger Scherenzaun umsäumt das Anwesen.
„Da also wohnst du?“ Benno möchte am liebsten sofort wieder umkehren.
Aber der Hund rennt schwanzwedelnd und bellend auf das Gartentor zu und wieder zurück.
Da wird die Haustüre aufgerissen und ein etwa achtjähriger Bub rennt mit einem Freudengeheul ins Freie.
Rex, Rex! – Rex!
Der Hund macht rechts und kehrt und rennt jaulend und bellend zu dem Kind hin. Dabei schwingt der Hund mit seiner Hüfte, als ob der Hund am Schwanz, statt umgekehrt, hängen würde. Bald tollen die beiden im Schnee und das Geheule mischt sich mit dem Gejaule. Dann löst sich der Hund wieder vom Knaben und rennt zu Benno zurück – hin und zurück – der Hund kann sich nicht entscheiden, bei wem er stehen bleiben soll.

Inzwischen ist auch eine junge Frau unter die Türe getreten.
„Hallo, guten Tag.“ Sie kommt ins Freie und Benno fährt zu ihr hin.
„Ich bringe Alexander, äh Rex – ich meine den Hund da. Ich habe ihn auf dem Weihnachtsmarkt im Städtli gefunden, er ist mir einfach nachgelaufen und so habe ich ihn halt bei mir behalten. – Ich wusste ja nicht … also, entschuldigen sie, ich habe den Aushang erst gestern Abend gesehen. Da ist noch etwas Hundefutter.“
Benno streckt der jungen Frau trotzig das fast leer Säckchen mit Hundefutter hin.
„Ich brauche es ja jetzt nicht mehr“.

Die sympathische Frau nimmt das Säckchen mit einem Lächeln entgegen.
„Ganz herzlichen Dank! Wir sind so froh, dass Rex wieder da ist“
Dabei gibt sie Benno die Hand, ein fester, warmer Händedruck.
Auch der kleine Junge, von unten bis oben voll mit Schnee, kommt jetzt zum Rollstuhl und schlingt beide Arme ganz fest um Bennos Hals.
„Danke, danke!“, keucht er. „Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk, dass mein Rex wieder da ist. Ich hatte solche Angst um ihn.“
Der Kleine umarmt wieder seinen Hund, der sich kaum beruhigen kann.

Die junge Frau wischt Benno vorsichtig den Schnee vom Kragen und bittet den jungen Mann ins Haus. Beim Kaffee erfährt Benno, dass der Hund beim Ausführen plötzlich einem Hasen nachrannte und nicht mehr zurück kam. Stundenlang hätten sie den kleinen Ausreisser gesucht – zuerst nur hier im Ort Zettel aufgehängt – aber der Hund sei verschwunden geblieben.
Michael, so heisst der Knabe, hätte schrecklich darunter gelitten, viel geweint, nicht mehr richtig gegessen und sich auch nicht mehr auf Weihnachten gefreut. Nur noch seinen Rex wollte er haben – aber nun sei ja alles gut. – und er, Benno, sei nun so etwas wie der Weihnachtsmann.
Liebevoll drückt der kleine Michael, der die ganze Zeit neben Benno sitzt, den Kopf an Bennos Arm und der strahlt über das ganze Gesicht. Er hat den Buben sofort ins Herz geschlossen.

Benno ist an diesem Tag noch lange geblieben. Er wurde zum Mittagessen eingeladen, dann musste er das Häuschen bestaunen und am Nachmittag hat er mit der jungen Mutter noch lange am Küchentisch geplaudert. Man verstand sich auf Anhieb.
Auch sie hat es nicht einfach, der Vater des Buben hat sie schon lange im Stich gelassen. Michael ist leicht autistisch und darum ist der aufmerksame Hund mit seinem Temperament, das mit bedächtiger Ruhe gepaart ist, für den Jungen so sehr wichtig. Der Kleine brauchte eben viel Zuwendung und Geduld. Auch Bezugspersonen und Spielkameraden wären wichtig. Doch so abgelegen wie sie wohnen, ist das nicht so einfach. Zudem findet man hier im Hinterland als Zugezogene mit fremdem Dialekt nicht so schnell Kontakt. Benno kann das gut verstehen.
Doch sie will gar nicht jammern, das Schicksal von Benno macht sie tief betroffen. Gerne will sie sich ein wenig um ihn kümmern, wenn er einverstanden ist. Auch für Michael wäre der Umgang mit Benno ein Gewinn. Denn Benno hat nicht nur ein Gespür für Hunde, sondern auch für Kinder, das hat Ruth schnell gemerkt.
Benno ist überglücklich. Niemals hätte er am Morgen gedacht, dass er sich am Nachmittag so wohl und geschätzt fühlen würde.

Natürlich wird Benno zum morgigen Heiligen Abend eingeladen. Das Gästebett stehe für ihn bereit, damit er zumindest über die Weihnachtstage ein richtiges Zuhause habe.

Aber wie soll man nun den kleinen Ausreisser in Zukunft rufen? Alexander oder Rex? Michael entscheidet sich für Alex.
Währenddessen verfolgt der kleine Hund von seinem Körbchen aus alles ganz genau. Er ist mit dem Ausgang der Geschichte sehr zufrieden  – ja, er ist sogar überzeugt, dass gerade er, besonders viel um glücklichen Ende beigetragen habe.

© Copyright Herr Oter (Dezember 2015)


Eine schweizerdeutsche Lesefassung für den privaten Gebrauch 
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© Copyright Bild-Autor: Tatiana Chessa /  Lizenz: CC 3.0/CH / aus Wikimedia Commons




:)

Samstag, 5. Dezember 2015

Der vergessene Nikolaus



Der vergessene Nikolaus
Eine neue Adventsgeschichte für meine diesjährigen Lesungen 
im Adventskaffee des Altersheims
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Im Altersheim 'Abendruh' ist es Tradition, dass die Lehrtochter im letzten Lehrjahr, für den Klausabend verantwortlich ist. Dafür darf sie dann später beim Nachtessen mit der Heimleitung, der Dorfpräsidentin und neben dem Nikolaus am Ehrentisch sitzen.
In diesem Jahr hat es für diese Aufgabe Monika getroffen, eine schüchterne, junge Frau, die aber immer ihr Bestes gibt.

Mit viel Eifer geht sie frühzeitig an die Vorzubereitungen. Sie plant mit der Aktivierung die Tischdekoration, bestellt mit der Chefin die Geschenke für die Bewohner, spricht mit dem Küchenchef das 'Samiklaus-Menu' ab und kreiert für das Büro die Menukarten. Bald werden die Einladungen an die Bewohner und die Angehörige verschickt. Am ersten Dezember ist Monika mit ihren Vorbereitungen ganz zufrieden, nun kann eigentlich nichts mehr schiefgehen. Nur noch das Nikolauskleid muss sie aus dem Keller holen …

Der Nikolaus! - Monika fährt der Schreck in alle Glieder, ihr wird fast schwindlig – hat sie doch tatsächlich vergessen, den Nikolaus zu bestellen. Schnell ruft sie bei Max Huber an. Der hat in den letzten Jahren immer den Nikolaus gemacht.
„Er könne nicht, er sei im Spital“, hat man ihr ausgerichtet.
Nun versucht es Monika bei der St.-Nikolaus-Gesellschaft.
Aber, oh Schreck, «sie sei viel zu spät! – alle Kläuse in der Region seien schon längst ausgebucht.»
Monika hätte heulen können. Nun hat sie sich so viel Mühe gegeben und das Wichtigste doch vergessen.
Wo soll sie jetzt nur einen Nikolaus hernehmen?
Die arme Monika kann ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

„Weinst  Du?“
Frau Heinrich, ihre Lieblingsbewohnerin, steht unter der Bürotüre.
„Nein“, schluchzt Monika und legt den Kopf verschämt auf die verschränkten Arme.
„Ja, das sehe ich“, sagt Frau Heinrich mit einem gütigen Lächeln, „darf man eintreten?“
Das unverständliche Gemurmel deutet Frau Heinrich als ein Ja und schon trippelt sie mit dem Rollator zum Bürotisch. Sie streicht Monika sanft über die Haare.
„Aber, aber, so schlimm wird es schon nicht sein – Liebeskummer?“
„Nein, keinen Samiklaus“, schluchzt die jungen Frau in ihre Arme.
„Komm Mädchen, erzähle …“

Kurz darauf hat Frau Heinrich die ganze Tragödie erfahren und zum Glück auch gleich eine Lösung bereit.
Es ist eben diese praktische und positive Lebenshaltung, die Monika und viele andere im Heim an der alten Dame so sehr schätzen.
Dazu ist sie immer hilfsbereit, freundlich und höflich, auch wenn sie recht direkt sein konnte, wenn es notwendig scheint.

„Schau, Liebes“, sagt Frau Heinrich, „ich habe einen Enkel, nur wenig älter als du. Der arbeitet im Büro eines grossen Einkaufzentrums. Dort hat er auch schon den Samiklaus 'gemacht', für die vielen Kinder am Nachmittag.
Ich werde den Johannes heute Abend anrufen und ihn bitten, dass er uns in dieser schrecklichen Situation aushelfen soll.“
„Oh, danke Frau Heinrich, sie sind einfach die Beste.“
Schnell wischt sich Monika die Tränen aus den Augen und drückt Frau Heinrich ganz fest.
„Meinen sie, das er das macht?“
Monika kommen schon wieder Zweifel.
„Ich denke schon“, beruhigt sie Frau Heinrich. „Der Johannes ist ein ganz Lieber. Der kommt eben ganz nach mir …“, sagt sie mit einem verschmitzten Lächeln.

Und wirklich, Johannes ist einverstanden.
«Er habe zwar am Nachmittag noch einen 'Auftritt' im Center, und es werde ziemlich knapp mit der Zeit – es seien immerhin dreissig Kilometer mit dem Auto. Aber dafür sei er dann bereits auch schon angezogen und er werde sich natürlich beeilen. – Für seine Grossmutter mache er doch alles möglich.»
Monika fällt jetzt ein grosser Stein vom Herzen und dafür gibt sie Frau Heinrich einen dicken Kuss auf die Wange.
Nun kann der sechste Dezember ja getrost kommen.

Und er kommt! Aber wie …!
Bereits am Mittag beginnt ein fürchterlicher Schneesturm. Am Nachmittag ist das Schneechaos auf den Strassen perfekt. Johannes informiert am frühen Abend seine Grossmutter, dass er auf der Autobahn feststeckt. Nichts geht mehr. Vielleicht schafft er es noch zu ihnen, aber sicher nicht zur abgemachten Zeit.
Für Monika bricht eine Welt zusammen. Die Bewohner und Angehörigen warten schon ungeduldig im Speisesaal. In einer Viertelstunde sollte der Nikolaus auftreten.
Was soll sie jetzt nur machen?

Wieder hat die gute Frau Heinrich eine Idee.
„Wo ist die Samiklaus-Kutte, die der Huber Max jeweils trägt?“
„Im Keller, ihr Enkel wollte ja bereits angezogen kommen“, schnieft Monika.
„Geh schnell und hole sie!“
Frau Heinrich ist nun als ehemalige Geschäftsfrau voll in ihrem Element.
„Und vergiss den Bart, den Bischofsstab, das grosse Buch und die Rute nicht.“

„Aber, aber Frau Heinrich, ich kann doch nicht… Hicks!“
Die arme Monika bekommt vor Schreck den Schluckauf.
Frau Heinrich muss lachen: „Nein, so kannst du wirklich nicht, mit dieser Stimme …, – und zudem ist sie auch viel zu fein für einen Samiklaus – und die Kutte viel zu weit, für so eine zarte Person, wie du es bist. Ich werde die Sache selber übernehmen müssen. Ich kann dich doch jetzt nicht im Stich lassen.“
„Aber Frau Heinrich! – ein Samiklaus mit einem Rollator – das gibt es auf der ganzen Welt nirgends“.
„Wir werden ja sehen“, meint Frau Heinrich energisch, „und vergiss die Stiefel nicht!“

Blitzschnell ist alles ins Büro geschafft. Der Hauswart hat mit angepackt.
„Sie könnten doch, Herr Müller …“, versucht Frau Heinrich dem Ganzen noch zu entkommen. Aber der fuchtelt mit den Armen, stottert etwas von dringender Schneeräumung und macht schnell auf dem Absatz kehrt.
So wird Frau Heinrich wohl nichts anderes übrig bleiben, als selber in die viel zu grossen Stiefel zu steigen.
Da hat sie noch eine Idee:
„Halt, halt!“ ruft sie in scharfem Ton.
Erschrocken bleibt der Hauswart wie angewurzelt stehen.
„Ihren Mantel und die Zipfelmütze, bitte, Herr Müller.“
Fordernd streckt Frau Heinrich die Hand aus.
Der Hauswart ist froh, dass es nur das ist und zieht schnell die geforderten Sachen aus, und – schon ist er weg.
„Bevor die Alte noch auf weitere dumme Gedanken kommt“, murmelt er halblaut.

Mit zehnminütiger Verspätung schreitet ein etwas zu kurz geratener Nikolaus würdevoll in den Speisesaal des Altersheims. Gestützt auf der einen Seite von einem viel zu langen Bischofsstab und auf der anderen Seite von einem schmächtigen 'Schmutzli' im viel zu langen, schwarzen Mantel des Hauswartes und mit seiner Zipfelmütze auf dem Kopf. Mit dem vielen Russ vom Cheminée ist das Gesicht von Monika nicht mehr erkenntlich.
Auf dem Rücken trägt sie einen grossen Sack mit den Geschenken.


„Guten Abend“, begrüsst eine tiefe, feste Stimme die wartenden Bewohner und schnell ist es ehrfurchtsvoll still im Saal.
„Entschuldigung für die kleine Verspätung, aber die Anreise war mit grossen Schwierigkeiten verbunden und sehr anstrengend. Ich muss mich gleich ein wenig setzen.“
Während sich der Nikolaus auf einen eiligst herbeigebrachten Sessel setzt, tuscheln die Bewohner lebhaft, wer wohl dieser Samiklaus sei, er wirke anders als die Jahre zuvor. Nicht einmal die Heimleitung hat eine Ahnung, wer es sein könnte.

Nun nimmt der alte Mann mit dem grossen, weissen Bart bedächtig sein grosses Buch zu Hand.
„So, so, wen haben wir denn da?“
Der Nikolaus blickt streng durch seine viel zu grossen Brillengläser in die Runde.

„Schau dort, Frau Nievergeld, sie strickt immer so fleissig, hat man mir gesagt. Das höre ich natürlich gerne, nur weiter so Maria. Vielleicht gibt es ja einmal ein paar warme Socken für den Samiklaus.“
Etwas zaghaft wird geklatscht.

„Aha und dort, Frau Marquart! Ich habe gehört, dass sie ihren Rollator immer mitten in der Cafeteria stehen lassen. Das stört die anderen. Ihr seid doch noch ganz gut zu Fuss - also könnten sie ihn bitte etwas mehr zur Seite stellen?“

„Dafür sollte Frau Meierhans den Rollator öfters benützen, sie ist ja schon zweimal gestürzt. Das ist doch wirklich keine Schande, so ein Rollator, Frau Meierhans. Ich brauche manchmal auch einen …“
Monika muss sich ein Lachen verkneifen.

„Und der Herr Dumermuth, flucht immer lautstark beim Jassen. Aber, aber, das ist nicht schön! So kommt man nicht in den Himmel, Herr Dummermut!“

„Und hier, Schwester Martina, sie hat immer genug Zeit für die Bewohner. Das ist genau das, was es braucht für diesen Beruf, viel Geduld und Einfühlungsvermögen, Bravo Schwester Martina.“
Heftig wird nun applaudiert.

„Und dort der Seppetoni! Er nimmt immer die Hauszeitungen mit aufs Zimmer. Das geht doch nicht, die Anderen möchten ebenfalls die Zeitungen lesen. Also, die Zeitungen vom Haus sind für alle da, und bleiben in der Cafeteria. Hast du verstanden Seppetoni?“
Der verspricht, sich zu bessern und Monika wundert sich, was ist aus der höflichen und zurückhaltenden Frau Heinrich geworden ist.

„Und dort, Schwester Marianne, sie telefoniert oft mit ihren Kolleginnen, während sie den Bewohnern das Essen eingibt – was ist das auch für eine Arbeitseinstellung, Marianne!“
Die Schwester bekommt einen hochroten Kopf.

Jetzt ist Frau Heinrich so richtig in Fahrt. Die Blätter der Pflege im grossen Buch, mit den allgemein gültigen Sprüchen für den Nikolaus, braucht sie nicht. Endlich kann sie einmal alles loben was ihr hier gefällt und tadeln was sie stört. Keinen lässt sie aus, nicht einmal die Heimleitung und sogar der Chef muss sich Lob und Tadel anhören.
Ständig wird der Nikolaus von Applaus unterbrochen – denn er hat einfach recht. Was er sagt, das denken die Meisten hier. So einen guten Nikolaus hatten sie also noch nie. Man fragt sich, wer denn so genau Bescheid über jeden im Altersheim wissen kann.
Währenddessen verteilt der 'Schmutzli', also Monika, fleissig die Geschenke – jeder bekommt eines. Sie ist überglücklich, dass die Bewohner so eine grosse Freude an 'ihrem' Nikolaus haben. Auch die Heimleitung und ihre Chefin gratulieren ihr mehrmals zu ihrer perfekten Organisation und der guten Auswahl des Nikolauses.

Später sitzen sie alle beim gemeinsamen Nachtessen. Natürlich sitzt Frau Heinrich am Ehrentisch neben der strahlenden Monika. Die Erleichterung ist beiden anzumerken und Monika legt ab und zu dankbar den Arm um ihre liebste Bewohnerin. Frau Heinrich wird immer wieder zu ihrer Rolle als Nikolaus beglückwünscht.
Niemand hätte gedacht, dass diese charmante, alte Dame ein so überraschendes Talent besitzt.
„Aber das war ein einmaliger Auftritt, dass das klar ist! Das habe ich nur für Monika gemacht!“
Dabei drückt sie liebevoll Monikas Arm.

Plötzlich wird die Türe aufgerissen und ein zweiter Weihnachtsmann stürmt in den Speisesaal.
„Entschuldigung, Entschuldigung!“, keucht er, „ich bin im Schnee stecken geblieben!“
Grosses Gelächter und ein warmer Applaus begrüssen den verspäteten Nikolaus. Natürlich wird auch er zum Nachtessen eingeladen. Frau Heinrich besteht darauf, dass er, nachdem er Bart und Verkleidung ausgezogen hat, neben Monika und nicht neben seiner Grossmutter sitzt.
Die junge Frau ist stolz, dass sie neben diesem gut aussehenden Mann sitzen darf und dabei erntet sie manchen neidischen Blick. Die Beiden unterhalten sich prächtig und Frau Heinrich ist das mehr als nur recht. Sie spürte schnell, dass zwischen den beiden mehr sein muss, als nur eine Lehrtochter in Not und ein zu später Nikolaus-Ersatz.

© Copyright by Herr Oter  (Dezember 2015)


Eine schweizerdeutsche Lesefassung für den privaten Gebrauch, 
kann auf Anfrage bei mir bezogen werden.




 © Bild von: geralt / Lizenz: CC0 by: pixabay



:)

Donnerstag, 16. Juli 2015

Wenn es zweimal klingelt…






Wenn es zweimal klingelt…

Wenn es kurz vor dem Mittag zweimal klingelt, dann ist das immer der Postbote.
Aber das kommt selten vor, denn er klingelt nur, wenn er neben der 'normalen' Post – die er sonst einfach in den Briefkasten wirft – auch noch ein 'Einschreiben' dabei hat. Denn diesen Erhalt muss man mit der Unterschrift bestätigen.

'Eingeschrieben' geliefert wurde bisher vor allem Wertvolles oder ganz Wichtiges – vielleicht bedeutende Dokumente oder ganz vertrauliche Papiere. Wichtige Verträge zum Beispiel, Anwalts- oder Gerichtsschreiben, aber auch Kündigungen oder letzte Mahnungen von Inkassofirmen. So bekamen oft die eher Liederlichen und Unredlichen einen  'Chargé' und vielleicht hat sich dann der eine oder andere, je nach Absender, doch beim Empfang manchmal ein bisschen geschämt. Denn rechtschaffene Privatleute hatten eher selten mit dieser Art von Postsendung zu rechnen. 

Das hat sich inzwischen scheinbar stark verändert.
Denn in letzter Zeit, so sagt mir mein Postbote, muss er immer öfter zweimal an Schweizer Haustüren klingeln. Nicht, dass es heute den meisten Eidgenossen gegenüber von früher bedeutend mehr an Gesetzestreue und Rechtschaffenheit mangeln würde. Nein, bestimmt nicht! Darum ist es ja heutzutage auch nicht mehr ein wichtiges Briefkuvert oder ein wertvolles 'Päckli', das der 'Pöstler' zum Unterschreiben bringt. Nein, es sind meistens eingeschriebene, schwarze Versandtaschen, die direkt aus China kommen. Sie enthalten billige Mode-Artikel, die zum Beispiel über die Webseite «Wish» bestellt wurden. Die Wish-App, die mobile Shopping-Plattform aus San Francisco, ist aktuell die Nummer eins im Versandhandel in Amerika und Europa und soll alle anderen mobilen Online-Shopping-Plattformen in den Schatten stellen. Nach Amazons Slogan 'Einfach so einkaufen’ und dem ’Schrei vor Freude' von Zalando, nun das 'Eingeschriebene' von «Wish». Besonders die neue Wish-App «Geek»  soll es den kaufwütigen Schweizern angetan haben und sie in einen wahren Kaufrausch versetzen. Über die Suche findet man (fast) alles, Kleider, Schmuck, Technik, Wohnungseinrichtungen, Geschenke, Kinderartikel und schnell ist bestellt und mit Kreditkarte bezahlt. Die Lieferung dauert dann etwas länger, dafür muss man schon 10 bis 30 Tage lang (manchmal auch etwas mehr) Geduld aufbringen.

So bestellt man online zum Beispiel ein paar schwarze Damen-Freizeitschuhe für 3 Fr./€. Dazu kommen dann noch 2 Fr./€ Porto. Wohlverstanden, transportiert von China in die Schweiz und das EINGESCHRIEBEN!
Ich habe den Postboten gefragt, was bei uns ein eingeschriebener Brief ins Nachbardorf kosten würde – seine Antwort: mindestens 6 Fr./€.

Über den Wert der Schuhe, deren Herstellungsbedingungen in China oder den ökologischen Unsinn des Transportes um die halbe Welt, mag ich heute hier gar nicht schreiben. Aber wie ist es möglich, dass die Schweizer Post für denselben Vorgang  – nämlich die Verteilung und Abgabe einer eingeschriebenen Postsendung – mindestens dreimal weniger verlangt, wenn das Paket aus China kommt?
Auch der 'Pöstler' hat mir bestätigt, dass seine Arbeit immer den gleichen Umfang hat, egal ob die Sendung in der Schweiz oder in China aufgegeben wurde. Aber seine Arbeitsbelastung hat sich dennoch stark vergrössert, weil heute auch 'rechtschaffene Privatleute' viel öfters eingeschriebene Post aus China bekommen. Es sei ein richtiger Boom entstanden. Und: „Es braucht natürlich viel mehr Zeit, bis jeder an der Haustür ist und dann, oft nach einem kurzen Gespräch, endlich für den Erhalt unterschrieben hat. Aber man will dem Kunden gegenüber ja auch nicht unhöflich sein.”
Zum Glück sind die meisten Benutzer dieser Apps tagsüber nicht zu Hause und darum muss er 'nur' einen Abholschein ausfüllen und in den Briefkasten werfen, damit sie ihre ’wertvolle’ oder 'ganz wichtige' eingeschriebene Post aus dem fernen China am Postschalter später abholen können.

Ob sich dabei der eine oder andere wie früher, ob dem Absender auch ein bisschen schämt – das habe ich den 'Pöstler' natürlich nicht gefragt.








:(

Dienstag, 9. Juni 2015

Mein erster Kinobesuch





Mein erster Kinobesuch

 

Der französische Filmschauspieler Pierre Brice ist in Paris, 86-jährig, an einer Lungenentzündung gestorben.
Er wurde als 'Pierre Louis Baron Le Bris' in Brest geboren, war lange Zeit Soldat und gelangte 1962 als Darsteller des 'Winnetou' in den Karl-May-Verfilmungen zu Weltruhm. Nun ist der 'echte' Winnetou, edler Indianer und Häuptling der Mescalero-Apachen, nach mehrfachen schauspielerischen Wiederauferstehungen vor wenigen Tagen endgültig in die ewigen Jagdgründe eingegangen.

Das erinnert mich an meinen ersten Besuch in einem Kino.

 

Ich war damals etwa vierzehn Jahre alt. Wie die meisten kleinen Kinder hatten wir natürlich auch ‘Indianerlis’ gespielt, aber die Karl May Bücher haben mich nie sonderlich interessiert. Mir gefiel nur Winnetous Schwester ausserordentlich gut.
Darum hing bei mir über dem Bett, statt Pierre Brice als Winnetou oder Lex Barker als Old Shatterhand, ein riesengrosses Poster der jungen, damals 24-jährigen, Marie Versini, als bildhübsche Häuptlingstochter Nscho-tschi an der Wand.
Für diese Nscho-tschi ging ich auch zum ersten Mal in meinem Leben in ein Kino – mit dem Velo, im nächst grösseren Ort.

„Bist du schon zwölf?“, fragte die korpulente Kassiererin ziemlich unwirsch. Ich war etwas aufgeregt.
„Ja“, kam es kleinlaut von mir, „dreizehn!“.
„Welcher Rang?“
Was, welcher Rang? Ich kam ins Stottern.
„Oben, unten, vorne hinten?“ knapp und forsch kam die Erklärung.
„Vorne!“, sagte ich erleichtert.
So war man der Leinwand doch am nächsten, oder? Komisch nur, dass das trotzdem die billigsten Plätze waren... Aber das kam mir nicht ungelegen, denn ich hatte gelernt, mein erarbeitetes ‘Sackgeld’ gut einzuteilen.
Natürlich war ich viel zu früh. Im düsteren Kinosaal waren erst wenige Plätze in der Mitte besetzt.
Ein Mann mit Taschenlampe verlangte nach dem Billett, und scheuchte mich dann den langen Gang hinunter: „Erste drei Reihen.“
Scheu setzte ich mich auf den ersten Klappstuhl der zweituntersten, ziemlich langen Bankreihe. Ich stand dann noch einige mal auf, bis sie ganz gefüllt war. Der Holzstuhl war ungepolstert und unbequem. Man musste steil nach oben sehen und die riesige Leinwand konnte man so nahe auch nicht mit einem Blick erfassen. So löste sich dann das Rätsel mit den billigen Plätzen rasch.

Nach einiger Zeit wurde es ganz dunkel. Aber nicht der Film begann, sondern die Reklame.
Ich musste ziemlich lange warten, bis mein Idol endlich zu sehen war. Ihr erster Auftritt war auch nur ganz kurz und in einer dunklen Abendszene. Darum war sie nur schemenhaft zu erkennen. Doch der Ausstrahlung von Nscho-tschi tat das keinen Abbruch.
Danach musste ich mich wieder sehr lange gedulden, bis das schöne Indianermädchen das nächste Mal ins Bild kam. Vorher hatte ich noch einige heftige Explosionen und spektakuläre Kampfszenen mit stürzenden Pferden und vielen Toten über mich ergehen zu lassen. Alles hautnah, übermächtig gross und sehr laut. Doch das Kino-Publikum war begeistert, ich eher 'beeindruckt'. Denn Zuhause hatten wir zu der Zeit noch nicht einmal einen schwarzweiss Fernseher. Darum schloss ich manchmal einfach ein wenig die Augen, wenn mit das Ganze 'zu nahe' kam.

Irgendwann ging das diffuse Licht im Kinosaal wieder an. Ich war enttäuscht, mein Idol nur so kurz und erst noch undeutlich gesehen zu haben. Aber viele blieben sitzen, denn zum Glück war nur Pause. Schüchtern wie ich war, getraute auch ich mich nicht von meinen Platz, obschon ich eigentlich zur Toilette musste. Doch, man konnte ja nie wissen wenn es weiterging.

Nach geraumer Zeit füllte sich dann die grosse Leinwand wieder mit Leben – Indianer, Gauner, Schurken, Spassmacher und Soldaten, auch viele Pferde und wunderschöne Landschaften waren zu sehen, nur meine Nscho-tschi nicht. Wann würde sie denn endlich auftauchen?

Erst musste noch Winnetou vom Marterpfahl befreit und der böse Santer bekämpft werden. Saloons, Zeltlager und weitere Pferde flogen durch die Luft. Auch ein paar Dutzend Rothäute und Weisse wurden noch niedergemetzelt – erst dann kam endlich der nächste Auftritt meiner Favoritin.
Zum Glück, denn meine Blase meldete sich immer heftiger.

Ihr Auftritt war ein Erlebnis, das Warten und der vorangegangene Gräuel hatten sich gelohnt. Hingebungsvoll pflegte sie den am Hals verletzten Old Shatterhand. Rührend tupfte sie dem Verwundeten den Schweiss von der Stirne, während sie ihn mit ihren grossen, dunklen Augen zärtlich ansah. Man sah, dass sich die junge Indianerin zum Todfeind ihres Stammes hingezogen fühlte. Aufopfernd pflegte sie ihn, während er sich im Fieberwahn wälzte. Tag und Nacht sass Nscho-tschi im Schein einer Öllampe an seinem Lager. Dann, kaum war sie kurz eingenickt, erwachte der Genesene und versuchte sich zu erheben. Mit zärtlichen Blicken drückte sie den stämmigen Mann sanft auf die weissschwarze Fellunterlage zurück.
„Wie heisst du, wie dein Name?” fragte der Verwundete. „Sag wie du heisst!”
„In meiner Sprache Nscho-tschi, das bedeutet 'Schöner Tag'.”
Old Shatterhand und ich waren hingerissen.
Im Kino, so gross und so nahe vor mir, erschien sie mir noch viel schöner und strahlender als auf dem Poster Zuhause. Zwischendurch vergass ich sogar meine übervolle Blase.

Nach dem eindrücklichen Dialog der Beiden musste Old Shatterhand essen, damit er wieder zu Kräften kam. Dazu löffelte die Schönheit dem Helden mit zärtlichem Blick eine rote, dünne Suppe ein. Danach musste er schlafen, damit er wieder gesund wurde – nur, damit man ihn und seine beiden Kollegen später tüchtig martern und dann töten konnte. Old Shatterhand versicherte ihr zwar glaubhaft, dass er Winnetou aus den Händen der Kiowas gerettet hatte, aber er konnte es nicht beweisen.
„Aber ist es war? Schwörst du es?“, fragte darauf die angebetete Schönheit den inzwischen bereits bärtigen Patienten.
„Ich schwöre es.“
In der schönsten Szene des Films schaute das bezaubernde Indianer-Mädchen den Helden mit ihren grossen dunklen Augen nachdenklich an und sagte dann leise mit ihrem unvergleichlich 'indianischen' Akzent: „Isch glaube dir.“ Trotzig fügte sie dann noch hinzu: „Wenn du sterben musst, dann will auch isch nicht leben – das schwöre isch".
Mich betrübte diese Ankündigung nicht. Hauptsache, das Ganze dauerte nicht mehr allzu lange, denn meine Blase meldete bereits Notstand!

Nscho-tschi wollte also für ihren Old Shatterhand kämpfen und seine Unschuld und gute Gesinnung beweisen. Doch den dramatischen Rest des Filmes habe ich dann leider nicht mehr richtig mitbekommen. Ich führte meinen persönlichen Kampf – gegen den Harndrang. Sogar der tragische Tod meiner Heldin liess mich vollkommen unberührt und während das halbe Kino mit den Tränen kämpfte, kämpfte ich gegen das Auslaufen.

Was war ich froh, als der Film endlich zu Ende war!
Mit einem unglücklichen Ende für die schöne Nscho-tschi, aber zum Glück mit einem 'Happy End' für mich. Ich hatte den Kampf gegen meine übervolle Blase gewonnen und mein erstes Kinoerlebnis ging zum Glück nicht in die Hose.





Marie Versini als Nscho-tschi
© Copyright Bild-Autor: unbekannt /  Lizenz:  GNU 1.2 / Quelle: Karl-May-Wiki  




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